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Januarfluss

Januarfluss

Titel: Januarfluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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gezogene Straßenbahnen, rumpeln vorüber, und Männer aller Altersstufen sind auf dem Weg in ihre Banken, Behörden und Büros. Sie alle wirken sehr geschäftig und sind überkorrekt gekleidet, mit Hut und Gehrock und Weste. Mich wundert, wie sie das bei den derzeitigen Temperaturen aushalten. Bestimmt haben sie in ihren Geschäftsräumen Sklaven, die ihnen Luft zufächeln.
    Einige dieser Männer lesen Zeitung, während sie gehen. Ich halte Ausschau nach einem Kiosk, kann aber noch immer keinen finden. Dafür sehe ich einen Zeitungsjungen, der eine der beiden größten Tageszeitungen Rios verkauft, glücklicherweise genau die, die Dona Eufrásia nicht bekommt. Ich gehe zu ihm und kaufe ihm eine Zeitung ab. Sollte er sich über seine ungewöhnliche Kundin wundern, so lässt er es sich jedenfalls nicht anmerken.
    Auf einer Bank, die im Schatten eines riesigen Ipê-Baumes steht, lasse ich mich nieder und blättere in der Zeitung. Eine leichte Brise, die ich eigentlich angenehm finde, weht mir immerzu die Seiten um. Es ist äußerst lästig, dieses unhandliche Ding zu lesen. Die Arme werden mir schwer, während ich die großen Seiten in der Luft vor mir ausbreite. Ich versuche sie so zu falten, dass das Ganze etwas handlicher wird, doch der Wind macht mir einen Strich durch die Rechnung. Herrje, kann man nicht mal eine Zeitung erfinden, die ein praktischeres Format hat? Wie können all diese Männer dieses Blatt lesen, ohne dabei auch nur im Geringsten entnervt auszusehen? Und was, zum Teufel, ist überhaupt so spannend an der Lektüre?
    Ich kann nichts, aber auch gar nichts finden, was mich interessiert. Die Börsenkurse und Kaffeepreise finde ich ebenso langweilig wie die Ergebnisse der Pferderennen am Wochenende. Die Buchbesprechungen handeln von Neuerscheinungen mit hochtrabenden Titeln, die ich nicht lesen will, und die Kritik der letzten Theaterpremiere macht nicht gerade Lust auf einen Besuch des Schauspielhauses. Die Kleinanzeigen studiere ich etwas intensiver, weil sich dort eine Suchmeldung nach mir verbergen könnte. Da wird nach entlaufenen Sklaven gefahndet und es werden Papageien zum Verkauf angeboten, da gibt es Annoncen für Bleichcremes sowie für Tinkturen gegen Damenleiden, sogar eine Hellseherin bietet ihre Dienste an. Doch nach einem verschwundenen Mädchen wird nicht gesucht. Gott sei Dank.
    Ich falte die Zeitung zusammen und beschließe, den Rest später zu lesen. Wenn meine schreckliche Kammer einen Vorteil hat, dann den, dass es darin nicht windig ist und dass ich die Zeitung auf dem Tisch ausbreiten kann, um sie zu lesen. Das ist doch immerhin etwas. Ich grinse vor mich hin, dankbar für meine phänomenale Fähigkeit, auch noch der schlimmsten Situation etwas Gutes abzugewinnen.
    Ich stehe auf und streiche mein Kleid glatt. Erst als ich die Flecken sehe, die meine mit Druckerschwärze verdreckten Hände darauf hinterlassen haben, lässt meine gute Laune ein wenig nach.
    Aber nur ein winziges bisschen.

6
    Das Essen, das es bei Dona Eufrásia gibt, ist ungenießbar. Gestern Abend hat mir Vovó einen wässrigen Gemüseeintopf vorgesetzt, den bei uns nicht mal die Sklaven anrühren würden, und heute sitze ich vor einem Teller mit einer dünnen, grauen Scheibe Fleisch neben einem ausgebackenen Maniokstück sowie einem Löffel voll verkochter schwarzer Bohnen. Es sieht widerlich aus und riecht abstoßend. Ich esse ein wenig von dem Maniok, weil ich einfach zu hungrig bin, um mir Mäkeligkeit leisten zu können. Aber die breiigen Bohnen und das zähe Fleisch bekomme ich beim besten Willen nicht hinunter.
    Mit ausdrucksloser Miene räumt Vovó meinen noch fast vollen Teller ab. Dona Eufrásia und ihr Sonderling von Sohn haben bereits gegessen, anscheinend finden sie es unangemessen, wenn Gäste und Vermieter gemeinsam speisen. Die beiden befinden sich in einem Nebenraum, den Dona Eufrásia großspurig als » Studierzimmer « bezeichnet. Ich habe keine Ahnung, was genau sie darin studiert, vielleicht ihren übervollen Terminkalender. Ich weiß mittlerweile, dass sie jeden Tag zum Friedhof an das Grab ihres Mannes geht und ansonsten wenig zu tun hat.
    Ich will gerade aufstehen, als Vovó zurückkommt und mir verstohlen ein kleines Päckchen in die Hand drückt. Erst oben auf meinem Zimmer wickele ich das Papier auf. Es ist ein Stück Kuchen, den ich hastig

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