Januarfluss
Mensch sein?, frage ich mich kopfschüttelnd. Meine Selbsteinschätzung ist offensichtlich falsch.
Dann richte ich meinen Blick auf den Jungen, den ich geohrfeigt habe. Er starrt mich feindselig an, und ich bin sicher, dass ich nun vor einem Hindernis stehe, das sich nicht so leicht überwinden lässt wie die bisherigen. Er wird mich berauben oder mir Gewalt antun. Ich kann nur hoffen, dass er mich wenigstens am Leben lässt. Doch, fällt mir ein, mit dem Leben werde ich wohl davonkommen, denn die Belohnung, von der ich ihm im Notfall berichten werde, wird ihn davon abhalten, mich zu meucheln.
Mein Ausflug in die Freiheit wird dennoch hier enden. Die VerheiÃungen eines Lebens, in dem ich selbst über mich bestimmen kann, in dem weder Eltern noch ein Ehemann mir die Verantwortung für mich selbst abnehmen, platzen wie eine Seifenblase. Das Einzige, was ich jetzt noch tun kann, ist, meinem Schicksal stolz entgegenzublicken. Dieser Kerl kann mir meine Ohrringe und meine Jungfräulichkeit stehlen oder mich der Polizei übergebenâ meine Würde wird er nicht antasten. Ich bin bereit.
Trotzig sehe ich ihm ins Gesicht. Langsam verzieht sich sein eben noch so verschlossenes Gesicht zu einem frechen Grinsen, das mich rasend macht. Muss er mich auch noch demütigen? Reicht es ihm nicht, mich hier, in dieser düsteren Gasse, in die Enge getrieben zu haben? Muss er mich dafür auch noch auslachen? » Nicht schlecht, für eine wie dich « , hat er gesagt. Was soll das überhaupt heiÃen?
» Und was gibt ⺠einem wie dir â¹Â« , greife ich die Wortwahl seines zweifelhaften Lobs auf, » das Recht, mich so zu beurteilen? « Mein Tonfall könnte kühler nicht sein, obwohl mir längst der Angstschweià ausgebrochen ist. Ich lege alle Arroganz einer weiÃen Sinhazinha gegenüber einem dunkelhäutigen Menschen in meine Frage, alle Borniertheit, deren ich fähig bin. In diesem Augenblick bin ich sehr dankbar für meine Erziehung, denn diese Ãberheblichkeit habe ich ja förmlich mit der Muttermilch aufgesogen. Vielleicht, schieÃt mir ein geradezu revolutionärer Gedanke durch den Kopf, besteht die vermeintliche Ãberlegenheit der WeiÃen ohnehin nur aus dieser Haltung. Denn wie sonst lieÃen sich Hunderttausende von Schwarzen von einer kleinen weiÃen Elite versklaven? Wir sind nicht besser, klüger oder stärker als sieâ wir glauben es nur. Und zwar mit einer solchen Inbrunst, dass aus der schlichten Ãberzeugung Realität wird.
Mein Philosophieren hilft mir jedoch absolut nicht aus der Klemme. Eigentlich ist es sogar eher hinderlich. Muss ich ausgerechnet in dieser Lage darüber nachdenken, ob der Bursche mir ebenbürtig ist oder nicht? Es wäre hilfreicher, ich könnte bei meiner abweisenden, kalten Attitüde bleiben.
Zu meiner Bestürzung kneift der Junge nun die Augen zusammen, als habe ich ihn sehr wütend gemacht. Auch ein Knurren glaube ich zu hören. Nur einen Moment später jedoch sehe ich, dass auch sein Mund sich verzieht, sich öffnet, immer breiter wird⦠der Kerl lacht. Das ist ja unerhört! Wie kann er es wagen? Was ich für ein Knurren gehalten habe, war unterdrücktes Gelächter, das sich nun Bahn bricht und ebenso frei wie laut aus seiner Kehle kommt.
Ich bin sprachlos. Allerdings nicht, weil ich dieses Lachen für vollkommen unmöglich halte, sondern weil der Bursche einfach umwerfend dabei aussieht. Stand eben noch ein zerlumpter, struppiger und ein bisschen unheimlicher Geselle vor mir, so verwandelt ihn sein ansteckendes Lachen vor meinen Augen in einen anderen. Ich glaube, ich habe noch nie eine so perfekte, weià strahlende Zahnreihe gesehen, oder so funkelnde honigfarbene Augen. Er ist der bestaussehende junge Mann, dem ich je begegnet bin.
» Du hast Mumm « , stellt er fest, als sein Lachanfall langsam abebbt.
Habe ich? Bisher waren Wagemut und Furchtlosigkeit nicht gerade meine hervorstechendsten Eigenschaften. Aber soll er es ruhig glauben.
» Wohin bist du denn so schnell gerannt? « , fragt er.
Ich denke nicht, dass er das Recht hat, mich derartige Dinge zu fragen. AuÃerdem finde ich es mehr als befremdlich, dass er einen lockeren Plauderton anschlägt, während er sich zugleich breitbeinig vor mir aufgebaut hat, sodass ich gar keine Chance habe, zu entkommen. Er spricht mit mir, als wären wir Freunde, die sich zufällig in einem
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