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Januarfluss

Januarfluss

Titel: Januarfluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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mich wie betäubt. Das Einzige, was ich noch unter Aufbringung meiner letzten Energie schaffe, ist, Dona Ana Geld zu geben und mich mit den Worten » ich glaube, ich brauche ein wenig Ruhe « in mein Zimmer zurückzuziehen.
    Erschöpft sinke ich auf das harte Bett und spüre schon, wie mir die Augen zufallen.
    Im Halbschlaf denke ich nur an zwei Dinge. Erstens: Der Bursche hat mir nicht einmal seinen Namen gesagt, mich aber auch nicht nach meinem gefragt. Zweitens: Er kann lesen. Er hat der Adresse auf dem Kuvert entnommen, dass es sich dabei um eine Straße in einer vornehmen Gegend handelt. Und er muss gesehen haben, an wen der Brief adressiert war: an Isabel de Oliveira. Dass jemand wie er lesen kann, scheint mir ebenso außergewöhnlich wie beängstigend. Denn wenn er Adressen lesen kann, kann er auch Zeitungsartikel lesen, in denen nach entlaufenen Töchtern gesucht wird.
    Während meiner Siesta träume ich eine Menge wirres Zeug– aber es ist weitaus weniger beängstigend als die Wirklichkeit.

10
    Dieser ungehobelte Bursche muss sich ins Fäustchen gelacht haben, als er mir mit ritterlicher Geste mein » Gepäck « zurückgegeben hat. Das Wertvollste darin fehlt nämlich. Wahrscheinlich hat er die Ohrringe entwendet, als er in dem Beutel herumgewühlt hat, noch auf der Straße. Ich könnte mich ohrfeigen für meine Leichtgläubigkeit.
    Als Kind habe ich mir, wenn ich wütend war, immer Haare ausgerissen, und zwar büschelweise. So zumindest haben es mir meine Eltern erzählt, ich selber kann mich daran gar nicht mehr erinnern. Doch das Gefühl, etwas zerstören oder sich selbst Schaden zufügen zu müssen, das kenne ich auch heute noch. Es tobt gerade in mir, und zwar mit einer solchen Gewalt, dass ich große Lust verspüre, mir die Haare auszureißen oder das Haus in Brand zu setzen oder etwas ähnlich Schreckliches. Ich kann mich gerade noch beherrschen.
    Allerdings ist es mit meiner Selbstbeherrschung nicht gerade weit her. Ich befinde mich zu nah am Abgrund, ein winziger Schritt in die falsche Richtung und es ist um mich geschehen. Oder um die Menschen in meiner Nähe: Wäre dieser Dieb jetzt hier, würde ich ihn umbringen, und zwar auf möglichst schmerzhafte und blutige Weise. Diese Gewaltfantasien sind, das haben mich die letzten Tage gelehrt, nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Anscheinend steckt in mir ja eine ziemliche Furie.
    Man merkt erst, zu was man fähig ist– ich meine, wirklich fähig ist–, wenn man in einer schlimmen Notlage steckt. Einer verteufelt schlimmen. Und so weiß ich nun seit einigen Tagen, dass ich sehr stark sein kann, auch körperlich stark, wenn es darauf ankommt. Es wäre mir lieber, ich hätte dieses Wissen über mein eigenes Wesen nicht erworben.
    Heute plagt mich plötzlich das schlechte Gewissen. So unausstehlich Dona Eufrásia auch ist, so hat sie es doch nicht verdient, niedergeschlagen und so schmählich am Fuße der Treppe liegen gelassen zu werden. Ich hoffe, dass sie wohlauf ist, dass ich ihr vielleicht nur die Nase gebrochen habe. Da ich mich in ihrem Viertel nicht mehr blicken lassen kann, werde ich es so bald wohl nicht in Erfahrung bringen. In den Todesanzeigen ist ihr Name auf alle Fälle noch nicht erschienen, denn die habe ich in den letzten Tagen sehr genau studiert.
    Ich hause jetzt am anderen Ende der Stadt, in Dona Anas Pension, die das Niveau der vorherigen bei Weitem untertrifft. Die Gegend ist ärmlich und nicht mehr weit davon entfernt, als Elendsquartier durchzugehen. Sie ist bevölkert von Weißen, meist europäischen Einwanderern und Dunkelhäutigen aller Schattierungen. Es leben hier kleine Handwerker, Arbeiter und Angestellte mit geringem Einkommen. Die Straßen sind nicht gepflastert, sondern bestehen aus festgestampftem Lehm. Seit einigen Tagen hat es kaum geregnet, sodass diese Lehmstraßen gut passierbar sind, aber ich wette, dass sie sich bei einem ordentlichen Unwetter in Schlammlawinen verwandeln.
    Da hier so viele Europäer leben, falle ich als Weiße unter all den Schwarzen und Mulatten nicht besonders auf. Diese Einwanderer kommen aus den verschiedensten Ländern, aus Deutschland, Italien oder Polen. Viele von ihnen haben helle Augen und sind blond. Weizenblond, wie man so schön sagt. Die Haarfarbe von Alice, die hierzulande gern als blond bezeichnet wird, sieht dagegen richtig dunkel aus.
    Wie

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