Januarfluss
aber eine bessere Scheinidentität zu und versuche, mich auf eigene Faust durchzuschlagen. Dann müsste ich mir eine Arbeit suchen und eine Bleibe, die billiger ist als meine jetzige.
Keine dieser drei Optionen ist besonders reizvoll.
Wenn ich ganz ehrlich mir selbst gegenüber bin, gibt es nur eine einzige Lösung, die mich glücklich machen würde: Gustavo rettet mich. Ich male mir aus, wie ich zu ihm gehe, ihm meine Notlage erkläre und er mir nicht nur spontan hilft, sondern mir auch gleich seine unendliche Liebe gesteht. Wir würden heiraten und die Flitterwochen natürlich in Europa verbringen. Trotz des immensen Vermögens, das Gustavo mit in die Ehe bringt und über das er mich nach Gutdünken verfügen lässt, würde ich meinen Eltern nicht die kleinste Kupfermünze abgeben. Strafe muss sein.
Ja, das wäre eine Geschichte ganz nach meinem Geschmack. Ich hole erneut den Brief von Gustavo hervor, den ich jetztâ seit ich weiÃ, dass ich möglicherweise beim Einnähen in den Rocksaum beobachtet wurdeâ in einem der Bücher von Alice aufbewahre, damit er nicht noch mehr Eselsohren bekommt. Seufzend falte ich ihn auseinander und lese zum hundertsten Mal die Botschaft, die nur ich zwischen den Zeilen zu entschlüsseln vermag.
Sein Gesicht jedoch kann ich mir nicht dazu vorstellen. Je mehr ich mich bemühe, desto weniger gelingt es mir. Die glühenden dunklen Augen, ja, die sehe ich vor mir, genau wie das dichte schwarze Haar und seine schön geschwungenen Lippen. Doch ich kann diese Einzelteile nicht zusammenfügen. Jedes Mal, wenn ich kurz davor bin, mir das geliebte Gesicht vor Augen zu führen, zerfällt es wieder in seine Bestandteile. Was gäbe ich nur für ein Bild von ihm! Ein winziges Porträt würde mir reichen. Ich würde es in einem Medaillon an einer Kette tragen, sodass ich ihn immerzu ganz nah an meinem Herzen spüren würde. Ach Gustavo, Geliebterâ¦
Mit geschlossenen Augen liege ich auf meinem Bett, bis das mittägliche Läuten der Kirchenglocken mich daran erinnert, wie früh es noch ist. Was fange ich mit dem Rest des Tages an? Ich wage es nicht mehr, hinauszugehen. Jeder Passant könnte mich erkennen und den Behörden ausliefern. Aber ich kann doch auch nicht den lieben langen Tag lang nur auf meinem Bett liegen, mit drei Büchern als einziger Zerstreuung. Sosehr ich das Sticken immer verabscheut habe, im Moment sehne ich mich förmlich nach meinem Stickrahmen. Sogar Klavier spielen würde ich jetzt gern, oder meinetwegen auch eine Patience legen.
Nun, denke ich, das mit der Patience lieÃe sich machen. Zwei Kartenspiele können nicht die Welt kosten, das wäre ich bereit zu investieren. Wo ich sie kaufen kann, weià ich auch schonâ nach meinen tagelangen Streifzügen durch die Stadt kenne ich nun wirklich bald jedes Geschäft. Zumindest von auÃen.
Frischen Mutes mache ich mich ein wenig zurecht, dann begebe ich mich wieder ins Getümmel. Es ist nicht weit zu dem Laden, den ich im Visier habe. Es handelt sich um eine Schreibwarenhandlung, die aber neben Papier, Tinte, Federn, Quittungsblöcken und Rechnungsbüchern auch allerlei Spiele und Zubehör führt. Ich habe durchs Schaufenster gesehen, dass es dort Würfel, Dominosteine, Karten und auch Spielbretter sowie Figuren für Schach und Dame gibt.
Argwöhnisch betrachtet mich der schmallippige Verkäufer, und instinktiv nehme ich eine geduckte Haltung ein. Hat er mich erkannt? Oder mustert er alle Kunden so, die nicht in der eigenen Kutsche vorgefahren kommen? Bevor ich mein Begehr vortragen kann, drängelt sich ein Senhor mittleren Alters an mir vorbei. » Sind meine Prägestempel fertig? « , fragt er in befehlsgewohntem Ton. Ich will den dreisten Kerl zurechtweisen, doch zu meiner Rolle als Mädchen aus dem Kleinbürgertum gehört es wohl auch, vor höhergestellten Personen zu kuschen. Innerlich koche ich vor Wut.
Als ich endlich an der Reihe bin, hört der verknöcherte Verkäufer sich meinen Wunsch mit deutlicher Missbilligung an: Kartenspiele sind nichts für junge Damen. Dann verschwindet er im Hinterraum. Hoffentlich verständigt er von dort aus nicht die Polizei. Ich bin ganz zapplig und wippe ungeduldig mit dem FuÃ. Nach ein paar Minuten erscheint der Griesgram wieder und legt meine Kartenspiele auf den Tresen.
» Darf es sonst noch etwas sein? « , fragt er
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