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Januarfluss

Januarfluss

Titel: Januarfluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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Strand ankommen und den Zuckerhut vor uns aufragen sehen, beschleunigen wir unseren Schritt. Dabei ist doch jetzt wirklich keine Eile mehr geboten. Hier dürften wir vor unseren Verfolgern sicher sein. Keiner der Menschen, die in Sonntagsgarderobe und von Sonnenschirmen geschützt einen Spaziergang an der Strandpromenade machen, sieht so aus, als interessiere er sich für uns.
    Â» Warum rennst du so? « , will ich von Lu wissen. » Lass uns doch hier irgendwo anhalten und den Zuckerhut bewundern. «
    Â» Was gibt’s denn da zu bewundern? « , fragt er.
    Ich schüttele in gespielter Verzweiflung den Kopf. Wie ignorant muss man sein, um das Wahrzeichen von Rio, wenn nicht gar von ganz Brasilien, nicht eine Weile anschauen zu wollen? Majestätisch erhebt sich der fast 400Meter hohe Berg direkt in der Einfahrt zu der runden Guanabara-Bucht. Jeder, der sich Rio de Janeiro vom Meer aus nähert, muss ihn passieren. Seinen sonderbaren Namen hat er angeblich aus der Indianersprache Tupí. Da heißt er nämlich Pau-nh-açuquã, was so viel bedeutet wie » Hoher Gipfel « oder » Einsamer Fels « . Für die Portugiesen wurde daraus pão de açúcar, Zuckerbrot, zumal seine Kegelform an die der » Zuckerhüte « oder » Zuckerbrote « erinnert, in die man einst den Zucker gepresst hat, bevor er nach Europa verschifft wurde.
    Â» Ist doch nur ein blöder Granitklotz « , erklärt Lu sein Desinteresse.
    Â» Wenn du meinst. Aber all die europäischen Maler und neuerdings auch Fotografen sind völlig fasziniert von diesem › Klotz ‹ . Auf den meisten Gemälden, die Rio de Janeiro zeigen, ist der Zuckerhut mit abgebildet. «
    Â» Verschone mich mit deiner Höhere-Tochter-Bildung « , blafft er zurück. » In Wahrheit hast du doch gar keine Ahnung. «
    Â» Inwiefern? Wovon habe ich keine Ahnung? « , will ich wissen.
    Â» Warst du schon einmal obendrauf? Na? Ich könnte wetten, dass du all dein tolles Wissen nur aus Büchern und von verknöcherten Lehrerinnen hast. Aber wirklich gesehen, richtig erfahren hast du doch gar nichts. «
    Ich finde es unmöglich, dass er sich so aufspielt. Ich meine, Augen im Kopf hat ja nicht nur er. Was glaubt er denn sehen zu können, was ich nicht sehe? » Du willst mir doch nicht etwa weismachen, dass du schon auf dem Gipfel warst? « , gifte ich zurück und werfe einen vielsagenden Blick auf den Berg, der steil, glatt und praktisch unbezwingbar vor uns aufragt.
    Â» Man muss nur ein bisschen klettern können « , erwidert Lu, was streng genommen keine Antwort auf meine Frage ist. » Aber für ein Mädchen reicht es vielleicht schon, wenn wir den Morro da Urca hinaufklettern. «
    Unmittelbar vor dem Zuckerhut liegt eine weitere Erhebung, die nur halb so hoch ist, genannt Morro da Urca. Diesen Berg, der viel runder ist und außerdem von dichtem Grün überwuchert, könnte man sicher mit Leichtigkeit erklimmen, aber wozu sollte man das tun? Den schöneren Ausblick bietet ohnehin der Corcovado, allein aufgrund seiner Höhe.
    Â» Und was sollen wir da? « , frage ich in beleidigtem Ton.
    Â» Das fragst ausgerechnet du? Den Zuckerhut bewundern, natürlich. Das war es doch, was du wolltest, oder? «
    Na schön, jetzt hat er mich mit meinen eigenen Worten geschlagen. Lu sieht schon wieder viel fröhlicher aus, seit er diesen lächerlichen kleinen Sieg errungen hat. Aber wenn er glaubt, ich wolle mich vor dem Aufstieg drücken, so hat er sich getäuscht. Ich finde zwar, dass wir nach unserem bestandenen Abenteuer vor Gustavos Haus jetzt nicht unbedingt gleich die nächste Herausforderung annehmen müssen, aber ich will keinesfalls als Drückeberger oder Spielverderber dastehen.
    Â» Weißt du denn, wo wir lang müssen? « , frage ich. » Hier kennst du dich doch bestimmt nicht so gut aus wie im Osten der Stadt oder im Tijuca-Wald. «
    Â» Vertrau mir « , sagt er und zwinkert mir zu.
    Was soll ich tun? Ich muss ihm wohl oder übel folgen, auch wenn mir der Sinn gerade nicht nach Klettern steht. Aber viele Alternativen habe ich ohnehin nicht. » Nach Hause gehen « würde ja bedeuten, Lu in sein Versteck im Wald zu folgen– und da kann ich genauso gut diesen Wald hier erkunden. Meine körperliche Verfassung könnte jedenfalls besser nicht sein, mit meinen gestählten Wadenmuskeln traue ich mir diesen Hügel auf

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