Januarfluss
dem sich riesige Wellen brechen. Man sieht die Gischt bis hier oben, mit einer solchen Wucht treffen die Brecher des Atlantiks auf das Land. Copacabana selbst ist ein verschlafenes Nest, das nicht mehr aufzuweisen hat als eine kleine Ansammlung von Fischerhütten am Meer sowie ein paar Gebäude landeinwärts, die offenbar zu einer Fazenda gehören. Auch ein paar Sommerhäuschen wurden hier errichtet und es werden bestimmt noch mehr werden. Seit unser Kaiser verkündet hat, dass das Baden im Salzwasser gut für die Gesundheit sei, ist es Mode geworden, sich eine Art Meereskur angedeihen zu lassen. Da kaum jemand schwimmen kannâ und in der mörderischen Brandung des Atlantiks wären auch die meisten Schwimmer den Wellen hilflos ausgeliefertâ, müssen diese Gesundheitsapostel sich in speziellen Tragegerüsten ins Wasser heben lassen, voll bekleidet natürlich. Ein sehr zweifelhaftes Vergnügen, wie ich finde. Aber bitte sehr, wenn es gut für die Gesundheit ist, dann sollen die Leute sich eben lächerlich machen.
Jedenfalls sieht Copacabana mit seinem Strand von oben sehr idyllisch aus und auch die dahinter liegende Landschaft ist betörend schön. Da ragen immer wieder wuchtige Berge aus den grünen Hügeln empor und unter ihnen erstrecken sich endlose Strände vor dem magischen Blau des Ozeans. Ich könnte stundenlang hier stehen und mir dieses Panorama ansehen.
Lu scheint es ähnlich wie mir zu gehen, denn auch er betrachtet die Szenerie schweigend und andächtig. Sein übliches Grinsen und sein arroganter Gesichtsausdruck sind verschwunden, stattdessen blickt er ernst drein und wirkt dadurch komischerweise viel jünger.
» Wie alt bist du eigentlich? « , frage ich ihn.
Er sieht mich mit gerunzelten Brauen an, als sei dies die dümmste Frage, mit der ich ihn belästigen konnte.
» Alt genug « , murmelt er und starrt weiter auf das Meer.
» Musst du eigentlich aus allem ein solches Geheimnis machen? Kannst du nicht ein einziges Mal normal antworten? Was macht es schon für einen Unterschied, ob du nun sechzehn, achtzehn oder zwanzig Jahre alt bist? «
» Siehst du: Es ist egal, wie alt ich bin, du hast es selbst gesagt. «
Er treibt mich in den Wahnsinn. Irgendwie gelingt es ihm dauernd, mir die Worte im Mund zu verdrehen. Ständig gibt er mir das Gefühl, ihm unterlegen zu sein, und das gefällt mir gar nicht.
Vielleicht hat er aus den Augenwinkeln meinen angesäuerten Gesichtsausdruck gesehen, denn er lenkt ein: » Also schön, ich bin siebzehn. Zufrieden? «
Ich nicke. » Sollen wir uns kurz hinsetzen? Ich bin ganz schön erschöpft. «
Er schaut sich um, entdeckt dieselbe von Laub bedeckte Stelle, die auch ich schon im Visier hatte, und fegt mit den Händen die Blätter ein wenig glatt, sodass wir darauf sitzen können.
Dass mein Kleid nun auch noch von hinten schmutzig werden wird, spielt keine Rolle mehr. Wir lassen uns nieder, Lu im Schneidersitz, ich seitlich auf den Oberschenkel mit angewinkelten Beinen. Hosen sind wirklich praktischer als Kleider.
» Erzählst du mir jetzt, wie es kommt, dass du so viel über mich weiÃt? « , frage ich, denn der Moment scheint mir günstig.
» Ja. Aber ich muss sehr weit ausholen. «
Und dann erzählt Lu mir eine traurige Geschichte, die mich nicht nur alle landschaftliche Schönheit um mich herum, sondern auch all meine eigenen Sorgen vergessen lässt.
15
Es war einmal ein Junge, der lebte glücklich mit seinen Eltern in einem kleinen Dorf in Brasilien. Er hieà LuÃz und war ein aufgewecktes, freundliches Kind. Weil seine Eltern Sklaven waren, war auch LuÃz ein Sklave, doch das war dem Jungen egal. Alle Leute, die er kannte, mussten von früh bis spät arbeiten, auch diejenigen, die keine Sklaven waren. Was machte es also für einen Unterschied?
Seine Mutter war in der Wäscherei beschäftigt, sein Vater war Hufschmied. Beide waren innerhalb des Dorfes angesehene Persönlichkeiten. Die anderen Sklaven fragten LuÃzâ Mutter oft um Rat, wenn es um gesundheitliche Dinge ging, denn sie war sehr bewandert in der Heilkunde. Die Männer schätzten das Urteil von LuÃzâ Vater, weil er ein gerechter Mann war, und wählten ihn zu einem der Ratsmänner, die über die Streitigkeiten innerhalb der Sklavengemeinde zu entscheiden hatten. Sogar die weiÃe Besitzerfamilie hielt groÃe
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