Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Januarfluss

Januarfluss

Titel: Januarfluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
Vom Netzwerk:
jeden Fall zu.
    Der Aufstieg erweist sich schließlich als mittelschwer. Er ist zwar definitiv mühsamer, als etwa die befestigten Wege in den hoch gelegenen Armenvierteln zu erklimmen. Aber dank der üppigen Vegetation und des wohltuenden Schattens ist es nicht allzu schlimm. Ein gewisses Triumphgefühl überkommt mich, als ich feststelle, dass Lu genauso stark schwitzt und genauso nach Atem ringt wie ich.
    Â» So, da wären wir « , erklärt er schließlich stolz.
    Irritiert sehe ich mich um. Um uns herum ist nichts als dichtes Grün. Ein paar Äffchen hangeln sich durch die Zweige über uns und im Geäst der Bäume raschelt und zirpt es. Ich denke lieber nicht so genau darüber nach, was da alles kreucht und fleucht, denn es sind sicher nicht nur hübsche Vögel, die die Bäume bevölkern.
    Â» Ein wunderbarer Blick auf den Zuckerhut « , höhne ich.
    Â» Wart’s nur ab « , sagt Lu.
    Entschlossen stapft er weiter durch den Wald, trampelt Gestrüpp nieder, knickt Zweige ab und schafft so einen schmalen Durchgang für uns. Nach nur wenigen Metern bleibt er stehen. Er drückt mit den Händen ein paar Äste beiseite: » Der Zuckerhut! « , verkündet er, als wäre er ein Conférencier im Varieté oder bei der Aufführung eines Magiers und würde die Sensation des Abends ankündigen.
    Ich schaue durch die Lücke und kann nicht glauben, was ich da sehe. Es ist eine steil aufragende Wand des Zuckerhuts, nichts als reiner Stein, glatt und dunkel vor Feuchtigkeit. Man hat den Eindruck, sie berühren zu können, so dicht liegt sie vor uns. Es ist ein bisschen beängstigend und gleichzeitig sehr faszinierend. Aus der Ferne sieht der Zuckerhut harmloser aus, nicht so urtümlich.
    Â» Das ist… « , beginne ich.
    Â» Ich weiß « , sagt Lu. Er sieht mich mit seinem frechen Grinsen an, in dem nun eindeutig so etwas wie Entdeckerstolz liegt sowie Freude darüber, dass ihm die Überraschung gelungen ist.
    Ich lächele zurück. » Unfassbar « , bestätige ich und muss mir Mühe geben, damit es nicht klingt, als würde ich einen Hund loben, etwa wie: » Fein, Lu. Braver Kerl. Hast du fein gemacht. « Denn so empfinde ich es auch gar nicht. Ich gönne Lu von ganzem Herzen diesen Augenblick und freue mich, dass er mich daran teilhaben lässt. Ohne ihn hätte ich den Zuckerhut niemals aus dieser ungewöhnlichen Perspektive gesehen.
    Â» Siehst du: nur ein Granitklotz « , sagt Lu betont lässig, als würde ihn der Anblick nicht auch bewegen.
    Â» Ja. Ein blöder Stein « , sage ich, bevor sich unsere Blicke wieder treffen und wir gleichzeitig anfangen zu lachen. Ich weiß, dass er einen kurzen Moment ungetrübten Glücks empfunden hat, auch wenn er es nicht zugeben mag. Und er weiß, dass ich es weiß. Es ist ein schönes Gefühl, als hätten unsere Herzen erstmals im gleichen Takt geschlagen oder als wären sich unsere Seelen begegnet– ein winziger wunderbarer Augenblick des Einklangs.
    Â» Hier gibt’s noch andere tolle Sachen zu sehen « , winkt Lu mich weiter. » Aber erst mal trinken wir was. «
    Ich habe das kleine Rinnsal gar nicht bemerkt, das zwischen zwei Felsen hindurchläuft. Wasser– kaum sehe ich es, wird mein Durst, den ich bisher kaum als störend empfunden habe, unbezwingbar. Wir knien uns hin und trinken, bis unsere Bäuche gluckern und wir nicht mehr können.
    Da ich noch bis vor Kurzem vorgehabt habe, Gustavo zu beeindrucken und von mir einzunehmen, habe ich heute Morgen meine besten Sachen angezogen, dazu die neuen Handschuhe sowie die Samtbänder, die ich in Ermangelung eines schönen Huts in mein Haar eingeflochten habe. All das ist jetzt schon wieder ruiniert, aber es ist mir völlig gleichgültig. Man hat ja gesehen, wie viel die feine Garderobe mir genützt hat. Da habe ich lieber Flecken auf dem Kleid, lösche aber meinen Durst und genieße ein herrliches Gefühl der Freiheit, als dass ich– äußerlich makellos– in mein Verderben renne.
    Â» Komm « , fordert Lu mich auf, » auf der anderen Seite hat man einen großartigen Blick auf Copacabana und die Strände im Süden. «
    Er hat nicht zu viel versprochen. Als wir kurz darauf an einer anderen Stelle durch das Dickicht schauen können, liegt zu unseren Füßen der weiße, halbmondförmige Sandstrand von Copacabana, an

Weitere Kostenlose Bücher