Januarfluss
hasserfüllt an. Die Wut im Raum ist fast mit Händen greifbar. Dabei bin doch in erster Linie ich es, die das Recht hätte, verärgert zu sein. Was Lu macht, nennt sich Erpressung: Entweder, ich tue, was er von mir will, oder ich muss wieder nach Hause. Wobei mir Letzteres derzeit zweifellos als die bessere Alternative erscheint. Meine Flucht war ohnehin zum Scheitern verurteilt, ohne Planung, ohne Ziel, ohne die nötigen Mittel und ohne verlässliche Helfer. Was habe ich nur damit bezweckt? Hätte ich nicht einfach mit meinen Eltern sprechen und ihnen ihre idiotische Idee mit der Hochzeit ausreden können?
Ich schweife in Gedanken ab, träume von Ãguas Calmas und dem herrlichen Leben, das ich dort führte, bevor ich das hier kennengelernt habe. Es fehlt mir mehr, als ich mir eingestehen wollte. Sollen sie sich doch die verfluchte Belohnung holenâ ich wäre zufrieden damit, wenn ich wieder zu Hause wäre. Mittlerweile ist mir auch mein Stolz egal, der Wunsch, meinen Eltern etwas zu beweisen. Ich würde sämtlichen Ãrger herunterschlucken, wenn ich nur wieder in meinem wunderschönen Schlafzimmer schlafen könnte, von Maria mit einem Milchkaffee geweckt werden würde und mir dann von ihr beim Ankleiden helfen lassen könnte. Ich vermisse meine schönen Kleider und die eleganten Schuhe, das opulente Frühstück mit Croissants und Brioches, das gepflegte Ambiente unseres Hauses, die kultivierten Abende bei Klaviermusik oder einer Stickarbeit. Vor allem aber vermisse ich Mariaâ und meine Eltern. Meine Augen werden feucht, ich muss schnell an etwas anderes denken.
» Hör zu « , sagt Lu leise, als spräche er mit einem Kind, das es zu besänftigen gilt. » Es ist ganz normal, dass du Heimweh hast, dass du dich hintergangen fühlst, dass du wütend auf mich und Angélica bist. Diese Flut an widersprüchlichen Gefühlen macht dir zu schaffen. Ich verstehe das, ehrlich. Ich weiÃ, was in dir vorgeht. Du willst am liebsten wieder nach Hause. Du denkst sicher gerade daran, dass wir dich doch bitte schön der Polizei übergeben sollen, es wäre ja nicht das Schlechteste für dich. Ist es nicht so? «
Ich nicke.
Angélica verdreht die Augen und murmelt, während sie in die Küche geht, allerlei Beschimpfungen vor sich hin. » Unsere kleine Prinzessin, ha! Ein Tränchen, und schon hat sie dich um den kleinen Finger gewickelt. «
Man hört es aus der Küche rumpeln, wahrscheinlich ist Angélica auf der Suche nach weiterem Schnaps, denn die Flasche, die auf dem Tisch steht, ist leer.
Lu setzt sich hin und grinst mich an. Ich kann nicht anders als zurückzulächeln. Hier sitzen wir, Feinde irgendwie, Freunde aber auch, zumindest Verbündete in unserem Unbehagen gegenüber Angélicas Gezeter.
Lu legt seine Hand auf meine, als er weiterspricht: » Das alles kann ich verstehen, Isabel. « Er redet und redet, doch das meiste von dem, was er sagt, kommt bei mir gar nicht an. Ich bin wie betäubt, weil seine Hand da so warm und unerwartet sanft auf meiner liegt. Die Geste rührt mich an, sie hat so etwas Vertrautes. Gleichzeitig bin ich wie elektrisiert, denn die Berührung ist zärtlicher, als es sich schickt. Verliebte tun so etwas, Bekannte nicht. Oder interpretiere ich zu viel in die Geste hinein? In der Zeit, die ich in Rios Unterschicht verbracht habe, ist mir aufgefallen, dass die Leute sich häufiger berühren, einander umarmen oder sich küssen. Womöglich hat Lu seine Hand ohne irgendeine Absicht auf meine gelegt, einfach nur, weil er es nicht anders kennt oder weil er seinen Worten mehr Eindringlichkeit verleihen wollte. Das allerdings ist ihm gründlich missglückt. Ich habe nämlich absolut nichts von dem verstanden, was er gesagt hat.
» Und? « , fragt er und sieht mich mit aufgerissenen Augen an, erwartungsvoll und aufgeregt.
Ich habe keine Ahnung, was er gefragt hat. Sicherheitshalber schüttele ich den Kopf, auch wenn es bestimmt wieder derselbe Vorschlag war wie vorhin, nur anders formuliert.
Lu entfernt seine Hand, was mich augenblicklich mit leisem Bedauern erfüllt. Dafür regt sich mein Verstand wieder, der zeitweilig ausgesetzt hatte.
» Verstehst du denn nicht? « , sagt Lu. » Es ist unsere beste Chance, den Dreckskerl dranzukriegen. Ich kann dich natürlich nicht dazu zwingenâ aber es wäre auch für dich die beste Gelegenheit,
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