Januarfluss
aussehe wie eine Dirne, kann ich es, denke ich, wagen, in die Innenstadt zu gehen. Ich habe Lust, mich zu bewegen, und ich will endlich einmal etwas anderes sehen als diese schreckliche Rua Formosa.
Je näher ich den GeschäftsstraÃen mit den gehobenen Läden komme, desto unsicherer werde ich. Die Rua Formosa hat eindeutig auf mich abgefärbt: In besseren Gegenden fühle ich mich bereits fehl am Platz. Es kommt mir so vor, als würden die Leute mich anstarren. Aber wahrscheinlich bilde ich mir das nur ein. Es ist schon mehr als zehn Tage her, seit mein Bild in der Zeitung veröffentlicht wurde, und auf dem war ich nicht einmal gut zu erkennen. Bestimmt erinnert sich kein Mensch mehr daran, rede ich mir gut zu.
In der Rua da Ouvidor bleibe ich vor dem Schaufenster eines Cafés stehen und bewundere die feinen Kuchen und Törtchen, die hinter der Scheibe des Tresens liegen. Mit Schokoladencreme gefüllte Eclairs, Kokostorten, Nougatkugelnâ mir kommen beinahe die Tränen, so hungrig bin ich und so verzweifelt, weil ich diese Leckereien nicht kaufen kann. Noch vor etwa zwei Wochen wäre ich einfach in das Lokal hineinspaziert und hätte mir ausgesucht, worauf ich Lust gehabt hätte. Jetzt aber ist das köstliche Naschwerk für mich ein unerschwinglicher Luxus.
Eine Pferdedroschke hält neben mir an. Ein vornehm gekleidetes Paar steigt aus und mir stockt für einen Moment der Atem. Ich kenne diese Leute. Oje, hoffentlich haben sie mich nicht allzu genau angeschaut. In meinem etwas ramponierten Kleid und mit der schlichten Flechtfrisur erinnere ich zwar kaum an die » Senhorita Isabel « , die ich mal war, aber manche Menschen haben ja ein unglaublich gutes Gedächtnis für Gesichter.
Mit heftig klopfendem Herzen wende ich mich von dem Schaufenster ab und schlendere davon. Ich gebe mir die gröÃte Mühe, langsam zu gehen und mir nicht anmerken zu lassen, wie aufgeregt ich bin. Doch als ich beinahe schon die nächste StraÃenecke erreicht habe, hinter der ich dann hätte wegrennen können, höre ich die schrille Stimme der Dame: » Isabel de Oliveira, bist du das? «
Es ist sehr unfein von ihr, so laut zu rufen. Ich ignoriere sie und gehe weiter. Nur noch ein paar Schritte, dann kann ich im Gewimmel der Rua da Quitanda verschwinden. In diesem Moment hält mich jemand am Ãrmel fest. Ich drehe mich herum und stelle fest, dass es Senhora Lemos höchstpersönlich ist, die hinter mir hergelaufen ist. Sie hechelt, wahrscheinlich ist ihr Korsett zu eng geschnürt. Am liebsten würde ich der Frau für ihre Unverschämtheit, mich einfach festzuhalten, eine Ohrfeige geben. Aber es gelingt mir, eine zutiefst dümmliche Miene aufzusetzen und Senhora Lemos mit unschuldig fragendem Blick anzusehen.
» Isabel, du bist es doch, oder? Deine Familie, deine Freunde, alle suchen dich! Was machst du denn nur für Sachen? Und wie du aussiehst! Komm mit, Kind, wir essen jetzt eine Kleinigkeit in dieser confeitaria, denn du scheinst mir ja ganz ausgehungert zu sein, und dann gehst du mit zu uns, und wir warten auf deine Eltern. Mein Mann kann sie telegrafisch benachrichtigen. «
Ich bin kurz davor, mich an ihren üppigen Busen zu werfen und loszuheulen. Und ob ich gern mit ihr in dieses Café gehen würde! Aber ich reiÃe mich zusammen. Betreten blicke ich auf die Pflastersteine, mache einen Knicks und sage in unterwürfigem Ton: » Sie sind sehr freundlich, Senhora. Aber Sie verwechseln mich wohl mit jemandem. Ich heiÃe Mariazinha, und ich muss mich sputen, weil meine lieben Eltern, denen der Schusterladen in Lapa gehört, auf mich warten. Sie werden sich bereits Sorgen machen, denn ich bin spät dran. «
Senhora Lemos betrachtet mich zweifelnd. Anscheinend hat meine schauspielerische Darbietung sie verunsichert.
Abermals mache ich einen Knicks. » Ich wünsche Ihnen Glück, Senhora, dass Sie dieses Mädchen finden. « Und bevor sie mich noch zurückhalten kann, laufe ich los, laufe, bis ich keine Luft mehr bekomme und bis ich mich in einer sicheren Gegend wähne. Eine » sichere « Gegend ist für mich jedes Viertel, in das ich bis vor Kurzem keinen Fuà gesetzt hätte, weil es mir zu unsicher erschienen wäre. Ha! Ironie des Schicksals, dass es nun ausgerechnet die feinen EinkaufsstraÃen der Innenstadt sind, die nicht mehr sicher für mich sind. Dort laufen viel zu viele Menschen herum,
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