Januarfluss
läuft zu ihm und wirft sich ihm an den Hals. » Wo hast du so lange gesteckt, du untreuer Hund? « Sie stellt die Frage in einem liebevollen Ton, ihr Gesicht strahlt von innen heraus. Jetzt sieht sie wieder aus wie die lebenslustige, durch nichts zu erschütternde junge Frau, die ich am Anfang kennengelernt habe, bevor sie mir einen winzigen Einblick in ihr Innerstes erlaubt hat. Sie spielt die Rolle perfekt. Es ist erstaunlich, wie schnell ihr der Wechsel gelingt: gerade noch verbittert und wütend, im nächsten Augenblick herzlich und fröhlich. Oder spielt sie uns diesmal gar nichts vor? Vielleicht kommt ihre Reaktion ausnahmsweise einmal von ganzem Herzen. Sollte dem so sein, dann ist sie unsterblich in Lu verliebt, was ich ja ohnehin schon vermutet habe.
Die beiden umarmen sich und geben einander Küsschen. Ich beneide sie ein wenig für diese unverfälschte Bekundung von Freude. Ich selbst stehe etwas steif daneben und weià nicht, was ich mit meinen Händen anfangen soll. Eigentlich würde ich Lu auch gern mit zwei Wangenküsschen begrüÃen, denn ich freue mich, dass er wieder da ist und die beklemmende Stimmung zwischen Angélica und mir sich verflüchtigt hat. Auf der anderen Seite finde ich es nicht angemessen, einen Burschen, der mir noch vor zwei Wochen bestenfalls die Schuhe hätte putzen dürfen, so freundschaftlich zu empfangen.
Lu sieht mich an, als könne er jeden einzelnen meiner Gedanken lesen. Er kneift die Augen ein wenig zusammen und sagt, während er Angélica noch etwas fester umarmt: » Ach, die feine Senhorita ist ja auch noch da. Das hatte ich fast schon verdrängt. «
Angélica lacht laut und eine Spur zu hämisch.
Ich fühle mich alleingelassen, vergessen, verschmäht. Die beiden stehen da in inniger Umarmung und ich bin überflüssig. Ich fühle mich wie Aschenputtel in einer verkehrten Version, in der der Prinz die Stiefschwester bevorzugt.
Bin ich von allen guten Geistern verlassen?, meldet sich mein gesunder Menschenverstand zurück. Lu ist kein Prinz, auch wenn er verflixt gut aussieht. Ich will bestimmt nicht, dass er mich seiner alten Freundin Angélica vorzieht. Himmelherrgott noch mal! Es wird höchste Zeit, dass ich etwas unternehme, dass ich selbst aktiv werde, um meine Lage zu verbessern. Am Ende gewöhne ich mich noch an diese Arme-Leute-Welt und passe mich so perfekt an, dass ich mich in einen Tunichtgut wie Lu vergucke.
Nein, beschlieÃe ich, so weit wird es nie kommen.
18
Nachdem Lu sich an dem Fleischeintopf satt gegessen und diesen überschwänglich gelobt hat, werde ich unter einem Vorwand fortgeschickt. Lu und Angélica haben etwas zu besprechen, das nicht für meine Ohren bestimmt ist.
Ich gehe zu der Familie im dritten Stock. Ob es sich wirklich um Polen handelt, weià ich nicht, denn » Polacken « sind in Angélicas Augen so ziemlich alle armen Europäer. Es ist mir auch gleichgültig. Ich will mich nur noch einmal bedanken und ihnen sagen, dass es allen geschmeckt hat. Vielleicht muss ich ihre Hilfe ja noch einmal in Anspruch nehmen.
Leider störe ich die Familie beim Abendessen. Sie sitzen zu siebt am Tisch. Der Vater, drei junge Burschen und eine zweite fast erwachsene Tochter sind da. Offenbar waren diese fünf tagsüber auf der Arbeit. Sie machen sich gierig über das Fleischgericht her, das sie mir zu verdanken haben. Ich bin froh, dass ich ihnen relativ viel davon abgegeben habe, denn hier kommt es mir sehr wenig vor.
Das Mädchen, das mich heute Nachmittag bereits empfangen hat, steht auf und will einen Stuhl für mich holen.
» Machen Sie sich bitte keine Umstände « , sage ich. » Ich komme lieber ein anderes Mal wieder. Ich wollte nur sagen, dass ich sehr froh bin, zu Ihnen gekommen zu sein. Es hat uns wunderbar geschmeckt und⦠Also, guten Abend dann noch. «
Das junge Mädchen sieht schuldbewusst und erleichtert zugleich aus. Vermutlich hat sie Angst, dass ihre Geschwister ihr nichts mehr von dem Festschmaus übrig lassen, wenn sie sich zu lange vom Tisch entfernt. Ich bin nicht minder erleichtert, denn ich hätte mich nicht gern zu den grimmig dreinschauenden Leuten an den Tisch gesetzt. Abgesehen von der Mutter und der einen Tochter haben mich alle feindselig gemustert.
Als ich wieder in unserer Wohnung ankomme, haben Lu und Angélica ihr vertrauliches Gespräch anscheinend beendet. Die beiden sitzen am
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