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Januarfluss

Januarfluss

Titel: Januarfluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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einem leisen Aufschrei klatsche ich es mit der Hand fort. Es war nichts, nur ein Blatt. Ich bin so angespannt, dass schon die kleinste Berührung mich zu Tode erschreckt.
    Kann man seine Furcht verringern, indem man zum Beispiel an etwas Schönes denkt? Einen Versuch ist es wert. Ich kauere in meiner Sträucherhöhle und stöbere in meinen Erinnerungen und Wunschträumen angestrengt nach einer Situation, die angenehmer ist als meine jetzige Lage. Das dürfte eigentlich nicht schwer sein, denn alles ist besser als eine Nacht allein im Wald. Dennoch will mein Kopf sich nicht auf die wunderbaren Szenen einlassen: ein Tag am See, zusammen mit Gustavo; ein Abend mit Alice, lästernd und lachend; der Morgenkaffee, den Maria mir an mein herrlich weiches Bett bringt– woran ich auch denke, im Vordergrund stehen immer die Angst, die Einsamkeit und die Verzweiflung, denen ich hier hilflos ausgeliefert bin.
    Ein Knacksen im Wald, gar nicht weit von mir entfernt, lässt mich aufhorchen. Ob da ein größeres Tier seine Neugier befriedigen will? Oder gar seinen Hunger? Ich wäre ja eine leichte Beute, denn einen anderen Fluchtweg als den geradewegs in die Klauen der Bestie habe ich nicht. Da, abermals ein Rascheln. Und dann mischt sich auch noch ein weiteres beunruhigendes Geräusch unter die Laute der Natur: ein Grummeln, wie von einem fernen Donner. Ich bin wie gelähmt vor Angst und zugleich hellwach und angriffsbereit. Aber was soll der Stein in meiner Hand schon gegen ein Tropengewitter ausrichten? Mit einem leisen, verbitterten Schnauben lasse ich den Stein wieder fallen. Wahrscheinlich hilft jetzt nur noch Beten.
    Auf einmal ist mir, als sähe ich einen Lichtschein. Ist der Mond aufgegangen? Oder spielen mir meine Augen nur einen Streich, nachdem ich so lange in die Dunkelheit gestarrt habe? Vielleicht habe ich auch nur einen fernen Blitz wahrgenommen. Aber nein, durch das Blattwerk meines Verstecks hindurch sehe ich ein warmes gelbliches flackerndes Licht. Ich krabbele nach draußen– und sehe jemanden mit einer Fackel durch den Wald streifen.
    Das muss Lu sein. Endlich!
    Â» Lu? « , rufe ich und gehe ein paar Schritte in die Richtung des Lichtscheins. Als ich erkenne, dass er es wirklich ist, werfe ich mich spontan an seinen Hals und schluchze. Er legt seinen freien Arm um meine Schultern und drückt mich an sich.
    Â» Verdammt noch mal! « , flucht er mit rauer Stimme. » Wieso bist du noch hier? Hast du den Verstand verloren? «
    Augenblicklich schlägt meine Erleichterung in Wut um. Was fällt diesem Kerl ein? Erst lässt er mich stundenlang hier warten, und dann hat er auch noch die Stirn, mich zu beschimpfen. Er ist doch an meiner ganzen Misere schuld! Hätte er mir nicht meine letzten Reserven gestohlen– mit dem Erlös aus dem Schmuck hätte ich nämlich eine ganze Weile sehr gut leben können–, wäre ich erst gar nicht in diese furchtbare Lage geraten.
    Â» Mein Verstand funktioniert ausgezeichnet « , erwidere ich kühl und winde mich aus seiner Umarmung. » Was hingegen leicht gestört ist, ist dein Zeitgefühl. Warum hast du mich so lange warten lassen? «
    Â» Verflucht noch mal, Bel, jetzt ist sicher nicht der richtige Moment, um mir Vorwürfe zu machen. Ein Gewitter ist im Anmarsch und hier im Wald sind wir nicht sicher. Wir müssen fort. «
    Er tritt ein paar Schritte näher und sieht hinter mir die Öffnung meines Verstecks. Neugierig leuchtet er es mit der Fackel aus. » Was zum Teufel ist das denn? Der Bau eines Capivaras? «
    Wider Willen muss ich lachen. Capivaras sind die größten Nagetiere der Welt und sehen aus wie riesige Meerschweinchen. » Soviel ich weiß, leben Capivaras am und im Wasser. Nein, das ist der Bau einer Sinhazinha. «
    Â» Du hast das gemacht? « , fragt er ungläubig.
    Â» Allerdings. «
    Â» Wie? Mit bloßen Händen? «
    Â» Ja. Und mit meinen Zähnen natürlich. «
    Er starrt mich sprachlos an, bevor er urplötzlich in Lachen ausbricht. » Du bist unglaublich, Bel! «
    Ich liebe es, wenn er mich Bel nennt, vor allem, wenn sein Gesicht dabei dieses Strahlen von innen heraus hat. Wobei die Beleuchtung von außen, nämlich der Fackelschein, sich auch nicht schlecht ausnimmt. Die flackernde Flamme verleiht seinen Zügen etwas Dämonisches, Wildes.
    Für eine passende Antwort bleibt mir diesmal keine Zeit, denn gerade setzt der

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