Januarfluss
tapfer. Ich könnte heulen, wenn ich es mir gestatten würde. «
» Ich weiÃ. Mir geht es auch nicht viel besser. «
Erstaunlich, denke ich. Das ist das erste Mal, dass ein Junge oder junger Mann in meiner Gegenwart zugibt, dass er überhaupt in der Lage ist, Furcht zu empfinden oder sogar zu weinen. Ich finde, dass das kein Zeichen von Schwäche ist, sondern im Gegenteil Ausdruck einer besonderen Stärke. Lu ist ganz gewiss keine Memme, so gut kenne ich ihn ja nun, und dass er Gefühle zeigen kann, macht ihn in meinen Augen erst recht nicht zu einer. Es macht ihn vollständiger, charaktervoller, und irgendwie auch liebenswerter.
Der nächste Donner klingt wie ein Peitschenhieb und lässt uns beide zusammenfahren. Der Griff unserer ineinander verschränkten Hände wird fester. Ich reiÃe die Augen auf, kann aber nichts erkennen. Um uns herum ist nichts als tiefe Schwärze. Für einen Moment bekomme ich eine Ahnung davon, wie sich Blindheit anfühlen muss, und ich bin dankbar für das Wissen, dass ich spätestens bei Anbruch des Tages wieder sehen kann.
» Bel? «
» Lu? «
» Ich bin erst um sechs zu Angélica gekommen, deshalb konnte ich nicht früher hier sein. Als sie mir sagte, wo ich dich treffen soll, bin ich sofort losgerannt. «
Das ist wohl Lus Art, sich zu entschuldigen, denke ich. » Schon gut. «
» Willst du wissen, was passiert ist, nachdem du weg warst? «
Jetzt, wo er es anspricht, will ich es tatsächlich wissen. Es interessiert mich sogar brennend. Sonderbar, dass ich diesen Wunsch nicht vorher verspürt habe. Ich schäme mich insgeheim dafür, dass ich dem ausländischen Mädchen, dessen Namen ich nicht einmal kenne, keinen einzigen Gedanken gewidmet habe. Ich habe sie möglicherweise in Gefahr gebracht und doch habe ich den ganzen Tag nur um mich selbst gebangt. Wie schäbig von mir, meine Retterin einfach so zu vergessen.
Ich nicke, bevor mir einfällt, dass Lu mein Nicken ja nicht sehen kann. » Ja. Was ist denn passiert? «
» Ich kann dir nur einen Bericht aus zweiter Hand geben, denn ich weià ja nur, was Angélica mir erzählt hat. «
» Und? «
» Dieses Mädchen, das in deinem Kleid auf die StraÃe gegangen ist, wurde von deinen Verfolgern festgehalten, abgeführt und verhört. Sie kam erst am späten Nachmittag zurückâ mit verquollenen Augen und zutiefst verstört. «
» Oh nein! « , rufe ich aus. » Das habe ich nicht gewollt. «
» Ich weiÃ. Damit konnte ja auch niemand rechnen. Nun ja, jedenfalls sagt sie, dass sie den Männern alles erzählt hat, was sie wusste, was Gott sei Dank nicht viel war. Wenig später tauchten dann, wie erwartet, diese Kerle bei Angélica auf. Aber die hat sich nicht einschüchtern lassen. Du kennst sie ja. Sie hat ihnen eine Geschichte aufgetischt, die sie ihr offenbar auch abgenommen haben. Darin hat sie behauptet, du seiest nicht mehr als eine Untermieterin, eine schlechte noch dazu, denn du würdest ihr noch die Miete schulden. Wenn diese Männer dich kriegen sollten, dann mögen sie ihr, Angélica, doch bitte Bescheid geben, sie habe noch ein Hühnchen mit dir zu rupfen. «
Ich kichere leise, denn ich kann mir die Szene lebhaft vorstellen. Doch mein Lachen vergeht mir schnell wieder, als ich an das arme Nachbarsmädchen denke. Hoffentlich sind sie nicht allzu ruppig mit ihr umgesprungen.
» AuÃerdem « , fährt Lu laut fort, um den Krach des Gewitters zu übertönen, » hat Angélica ein paar deiner Sachen zusammengepackt und vors Fenster gehängt, damit diese Typen sie nicht finden. Sie hat nämlich schon geahnt, dass sie die Wohnung durchsuchen würden, und genauso kam es dann auch. Gefunden haben sie nicht mehr als ein paar schmutzige Wäschestücke sowie einen Briefumschlag, auf dem die Adresse eines gewissen Gustavo steht. «
» Oh nein, nicht den Brief! «
» Nein, du kannst Angélica dankbar sein. Sie hat den Brief vorher aus dem Umschlag genommen und ihn in den Beutel zu deinen Sachen getan. Obwohl ich wirklich nicht weiÃ, warum sie das getan hat. Oder warum du so an dieser langweiligen Notiz von dem blöden Kerl hängst. «
» Sprich nicht so abfällig über ihn! « , zische ich.
» Vergiss nicht, dass er dich verraten hat. « Dabei löst er seine Hand aus meiner.
» Das war bestimmt keine böse
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