Janusliebe
hätte, dass er sie unbedingt heiraten müsste.
Lawrence seufzte und versuchte erneut, sich in die Papiere auf seinem Schreib-
tisch zu vertiefen. Diesmal verwandelten sich die Zahlen in einen Wald mit hun-
dertjährigen Eichen, zwischen deren Stämmen er selbst beschwingt dahinschritt,
neben sich ein schönes junges Mädchen in einem schneeweißen Kleid, dessen
Rock im lauen Frühlingswind flatterte.
Lawrence klappte den Aktendeckel zu und stieß ihn mit einer wütenden Be-
wegung von sich. Er war tatsächlich urlaubsreif!
Seit Jahren, ach was, Jahrhunderten!, hatte er nicht mehr solche albernen Träu-
me gehabt. Er war ein Realist, den nur günstige Bilanzen und die Plus-Zahlen auf sei-
nen Kontoauszügen erregen konnten. Sicher hatte er damit und mit seinem gren-
zenlosen Ehrgeiz seine Kraft überfordert, und nun machte ihn sein Körper mit der-
artig blödsinnigen Ideen darauf aufmerksam, dass er endlich mal Ruhe brauchte.
Lawrence sprang aus seinem Sessel und umrundete mit wenigen Schritten sei-
nen Schreibtisch. Es hatte keinen Sinn, sich weiterhin auf die Arbeit zu versteifen,
wenn sich sein Hirn dagegen wehrte.
Hoffentlich hatte ihm nicht einer seiner vielen Angestellten diesen Grippevi-
rus übertragen! Dieser Gedanke ließ Lawrence geradezu in Panik geraten.
Er musste sofort etwas tun. Ausspannen, so wie es Doktor Cline geraten hatte,
aber natürlich nur einen Nachmittag lang! Das musste reichen, sein Körper war ja
nicht freizeitverweichlicht.
Und Lawrence wusste auch schon, wie diese Entspannung aussehen sollte:
langhaarig, mit winzigen Sommersprossen um die entzückende Nase, großen
dunklen Augen und wunderschönen vollen Brüsten, die sich deutlich unter ihrem
engen T-Shirt abzeichneten.
Genug gegrübelt. Schließlich gehörte ihm der ganze Laden hier! Er durfte sei-
ne Angestellten in seiner Firma aufsuchen, wann immer er wollte!
Entschlossenen Schrittes stapfte er aus seinem Büro, vorbei an der verdutzten
Doreen, hinein in Carrys kleines Schreibzimmer, in dem es irgendwie nach Früh-
ling und Sonnenschein roch.
Carry hob, aus der Arbeit aufgeschreckt, den Kopf. Ihre Augen sahen verwirrt
zu Lawrence, der langsam an ihren Schreibtisch trat.
Bernsteinaugen, fuhr es ihm durch den Kopf, als er Carry ins Gesicht blickte.
Wunderschöne honigfarbene Bernsteinaugen, in deren Blick sich jedoch ein un-
schönes Misstrauen schlich.
«Oh, Mister Carlson, Sie haben sechzehn Uhr gesagt.» Das Misstrauen wan-
delte sich in kühle Zurückhaltung. «Ich bin noch nicht ganz fertig. Es fehlen noch
zwei Briefe.»
Zu ihrem maßlosen Erstaunen winkte Lawrence ab.
«Haben Sie schon zu Mittag gegessen?»
Carry erstarrte auf ihrem Stuhl. Dass Lawrence M. Carlson schreien konnte,
war ihr bekannt. Dass er unfreundlich, ekelhaft, ungerecht und ungeduldig war,
hatten etliche ihrer Kollegen und Kolleginnen erfahren dürfen. Aber dass er so et-
was wie Liebenswürdigkeit besaß, das hatte noch nie jemand von ihm behauptet.
«Nun?», hakte Lawrence nach, als Carry nicht sofort antwortete.
«Nein», stammelte sie völlig perplex.
Lawrence schüttelte den Kopf und betrachtete sie mitleidig.
«Das geht aber nicht», stellte er mit milder Stimme fest. «Wir werden das so-
fort nachholen. Packen Sie den ganzen Papierkram in die Schublade, schalten Sie
den Computer aus, dann gehen wir gemeinsam essen.»
Carry schluckte, obwohl sich ihr Mund staubtrocken anfühlte. Sie musste un-
willkürlich an das Märchen «Die sieben Geißlein» denken, in dem der böse Wolf
Kreide fraß, um seine raue Stimme zu verfeinern, und anschließend sechs von den
Geißlein vernaschte.
«Sie wollen – mit mir – zum Essen ...?» Carry bekam vor lauter Überraschung
keinen zusammenhängenden Satz heraus.
«Ja, ich lade Sie zum Essen ein.» Lawrence lächelte charmant. Charmant???
«Immerhin helfen Sie mir aus einer personellen Notlage, also möchte ich mich
dafür revanchieren.»
Automatisch streckte er die Hand nach einem der ausgedruckten Briefe aus
und überflog ihn rasch.
«Perfekt», lobte er. «Endlich hat Ihre Agentur jemanden geschickt, der die
englische Sprache beherrscht und zudem auch noch was von seinem Job versteht.
Werden Sie gut bezahlt?»
Carry klappte der Unterkiefer herunter. Himmel, wie viel verdiente eine
Schreibkraft im Aushilfsdienst? Sie hatte keinen blassen Schimmer!
«Äh ... es geht», antwortete sie vage.
«Bei seinem Gehalt sollte man nie zu bescheiden sein, wenn man etwas kann so
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