Janusliebe
wie Sie», wurde sie von Lawrence belehrt. «Keine Sorge, ich frage Sie nicht weiter aus.
Sie unterliegen den Kunden gegenüber ja diesbezüglich einer Schweigepflicht.»
«Hm-hm», brummte Carry und war froh, dass Lawrence es als Zustimmung
wertete.
Er legte den Brief zu den anderen zurück und blickte Carry auffordernd an.
«Nun? Können wir gehen?»
Sie nickte wie in Trance.
Das glaubt mir später kein Mensch, schoss es ihr durch den Kopf. Ausgerech-
net der unfreundlichste Mensch von ganz Denver, den Carry vor einer Woche
noch um ein Interview gebeten hatte, das er mehr als schroff abgelehnt hatte, lud
sie jetzt galant und geradezu überschäumend vor Liebenswürdigkeit zum Essen
ein! Daphne würde in Ohnmacht fallen, wenn sie es erfuhr.
Daphne!
Carry packte hastig die Papiere ein, versetzte den Computer in den Sleepmo-
dus und legte die Abdeckung über die Tastatur.
Eigentlich war sie ja hier, um Daphne einen Gefallen zu tun. Lawrence’ Einla-
dung würde ihr vielleicht helfen, endlich in Ruhe ihr – vielmehr Daphnes – An-
liegen vorzutragen.
Mit einem prüfenden Blick über den Schreibtisch vergewisserte sie sich, dass
alles ordentlich an seinem Platz lag und trat zu Lawrence, der ihr sogar galant den
Arm reichte. Wie gut, dass sie heute auf ihre üblichen Jeans verzichtet hatte und
stattdessen das knallrote Top und den schwarzen Mini gewählt hatte, in dem sie
so sexy aussah. Er saß auf den Hüften und sein einziger, dafür umso auffälligerer
Schmuck war ein breiter roter Gürtel, der von einer silbernen Schnalle zusam-
mengehalten wurde. Dazu trug sie Schnürstiefeletten mit hohen Absätzen (aller-
dings nicht so hoch wie Doreens), von denen ihr Vater immer behauptete, sie sä-
hen nuttig aus. Aber Daddy hätte ihr ganzes Outfit missbilligt. Wenn es nach ihm
ginge, müsste sie ausschließlich in grauen Kostümen und braunen Halbschuhen
herumlaufen.
Ihr dunkelblondes Haar, das sich wegen der Lockenpracht nie bändigen lassen
wollte, war am Hinterkopf zusammengebunden und kringelte sich von dort auf
ihren Rücken. Carry selbst war der Meinung, dass ihr Kopf immer wie ein Staub-
wedel aussah, wenn sie ihr Haar offen trug, aber ihre Freundinnen und Kollegin-
nen beneideten sie um ihre Pracht.
Auch Lawrence’ Blicke hingen bewundernd an der glänzenden Fülle, als sie
vor ihm aus dem Zimmer ging. Ihre Erscheinung brachte ihn in echte Schwierig-
keiten, weil er sich nicht entscheiden konnte, was er lieber betrachten wollte: Car-
rys Haarpracht, ihren runden Po, den sie vor ihm hin und her schwenkte, oder ihre
langen, schlanken Beine?
Auf jeden Fall ließen die Frisur und ihre Kleidung sie jung und irgendwie
frech-pfiffig erscheinen. Eine Mischung, die ihm ausnehmend gut gefiel.
«Ich bin für den Rest des Tages nicht mehr im Haus», teilte er Doreen im Vor-
beigehen mit, der vor Erstaunen glatt die Kinnlade herunterfiel.
«Aber Chef!»
Der Ruf erreichte ihn, als er bereits vor dem Lift stand.
«Ihr Termin mit Brandstin?»
«Absagen.» Demonstrativ schaltete Lawrence sein Handy ab. «Ich bin nicht
zu erreichen.»
«Und wenn etwas passiert?» Doreen stand das blanke Unverständnis ins Ge-
sicht geschrieben.
Die Lifttüren glitten auseinander. Lawrence ergriff Carrys Ellbogen und führte
sie in die wartende Kabine.
«Der Laden wird schon nicht gleich in Flammen aufgehen, bloß weil ich mal
nicht da bin», rief er über die Schulter zurück.
Die Türen glitten wieder zusammen und verbargen das Paar damit vor den fas-
sungslosen Blicken der Empfangsdame.
Doreen konnte die Geschichte selbst eine Stunde später noch nicht glauben.
———————
Während der Lift in die Tiefe schwebte, überkam Lawrence ein lange nicht
mehr empfundenes Gefühl des Übermuts. Es war wie Schule schwänzen, heimlich
Marmelade naschen oder Tante Rita hinter deren Rücken die Zunge rausstrecken.
Alles Dinge, die er als Kind gerne gewagt hatte, die aber von seinem strengen Vater
mit schmerzhaften Ohrfeigen geahndet worden waren.
Später, nach dem Tod seines Vaters, war Lawrence keine Zeit mehr für solche
Späße geblieben. Er musste sich um seinen dreizehn Jahre jüngeren Bruder küm-
mern und die völlig heruntergewirtschaftete Werkstatt seines Vaters auf Vorder-
mann bringen, die dieser mit seinem Starrsinn und seinem Widerstand gegen alles
Neue an den Rand des Ruins getrieben hatte.
Jahre harter Arbeit lagen hinter Lawrence. Manchmal hatte er mehrere Nächte
hintereinander
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