Jasmin - Roman
getrunken hatte. »Papa, hast du eine Zigarette?«
»Nein, mein Sohn, mein Hals tut weh, ich habe keine gekauft.«
Wie war es möglich, dass mein Vater keine Zigaretten hatte? Er war doch Kettenraucher und hatte immer ganze Stangen auf Vorrat zu Hause. Und warum war er so schwach und blass, lag mitten am Tag in diesem warmen Schlafanzug auf dem Bett?
»Warst du beim Hals-Nasen-Ohren-Arzt?«, fragte ich.
»Welcher Hals? Von wegen Hals, einen Herzanfall hatte er«, mischte sich Mama ein, und mir verschlug es die Sprache.
»Warum machst du ihm Angst, er ist gerade aus dem Krieg zurückgekommen«, brachte Vater sie zum Schweigen. Ich rückte meinen Stuhl näher an sein Bett, nahm seine große Hand und drückte sie verstört an meine Wange. Wieso ein Herzanfall? Mitgefühl überflutete mich, ich wollte seinen Kopf in meine Hände nehmen und ihn küssen.
»Nicht so schlimm, ich hab’s überstanden, Gott sei Dank«, versuchte mein Vater abzuwiegeln.
Da mischte sich meine Mutter wieder ein: »Nicht so schlimm? Frag nicht, was wir durchgemacht haben. Ich habe keine Sekunde geschlafen. Das kleinste Geräusch, und schon bin ich gesprungen. Schritte auf der Treppe, und ich falle um. Und dein Vater, eine Zigarette nach der anderen, sein Kopf steckt im Radio, Tag und Nacht, ›Israel ist tot, Israel ist wahnsinnig‹, so haben sie geschrien, getilgt sei ihr Name. Und dein Vater gab keine Ruhe, hat mit dem laufenden Radio geschlafen, ich schalte es aus, und er schaltet es ein, die ganze Nacht ging das so. Und in der Früh,
krach, fällt er aufs Bett, kriegt keine Luft, erstickt mir unter den Händen, sein ganzes Gesicht mit kaltem Schweiß. Allmächtiger, was soll ich tun? Womit habe ich mich versündigt? Ich bin auf den Balkon raus, habe geschrien und geschrien. Bis die Ambulanz kam, habe ich fast meine Seele ausgehaucht. Frag nicht, was wir durchgemacht haben«, sie gab einen schweren Seufzer von sich.
Ich warf einen Blick durchs Zimmer und sah es in seiner ganzen Erbärmlichkeit: ein kleiner, fensterloser Raum, eine niedrige Decke, eine schwache Lampe. An der Wand hing ein Foto von uns, am Vorabend unserer Einwanderung nach Israel. Meine Eltern, im Zentrum in Festtagskleidung, blicken hoffnungsvoll in die Kamera, Mama ist schwanger, mein Bruder Moschi schneidet ein finsteres Gesicht, Kabi verbeißt sich mit Mühe ein Lächeln, und ich, mit seitlich geneigtem Kopf, träume. Ich liebte dieses Bild, das einzige, das uns von dort geblieben war. Papa hatte es aus dem Reisedokument herausgerissen und zu einem Fotografen gebracht, der es vergrößerte und rahmte.
»Mein Sohn, hier sind saubere Kleider, wasch dich und lass alles hinter dir«, drängte mich meine Mutter und fiel mir wieder um den Hals. »Was für eine Zeit wir durchgemacht haben, Allmächtiger, der Körper ist hier und die Seele dort. Hast du von Beroschi gehört? Was für ein Junge! Meine Augen sind mir ausgetrocknet, so viel hab ich geweint. Und Zakai und Schakratschi und Sechajek? Ich weiß gar nicht, um wen ich zuerst weinen soll. Weißt du, was Beroschi mit dem Geld gemacht hat, das er mit den Hochzeitshallen verdient hat? Als Erstes hat er seinen Eltern die Wohnung von der Wohnbaugesellschaft gekauft. Jetzt sag mir, gibt es eine Gerechtigkeit auf der Welt? Warum haben ihm seine guten Taten nichts geholfen? Und seine Mutter? Seine Mutter ist eine Heilige, ein Engel. Sie putzt und kümmert sich um die Synagoge, kommt zum Beten, hilft auch den Armen, voller Wohltätigkeit ist sie, wie ein Granatapfel. Wir waren zusammen in der Synagoge, als sie das Viertel bombardiert haben. Ich sage zu ihr, ›Komm in den Schutzraum‹, und sie antwortet, ›Ich soll in den
Schutzraum gehen, und mein Sohn ist im Krieg? Gott bewahre!‹ Und schau dir an, was ihr passiert ist.«
»Schluss mit den Tränen, das ist nicht gut für deine Augen«, sagte mein Vater.
»Das sind nicht die Augen, es ist das Herz«, fuhr sie fort. »Ich erinnere mich wie gestern an seine Bar-Mizwa. Wir waren neu im Viertel, ich kannte keine Menschenseele, und seine Mutter hat mich mit eigenen Händen bewirtet, einen großen Teller: ›Nimm für die Kinder.‹ Und auf einmal ist er Soldat, und dann ist er tot … oiwawoi, weh mir.«
»Umm Kabi, was soll dieses Klagen jetzt? Dein Sohn ist zurück, Gott sei Dank, hat gute Nachrichten von den Jungen mitgebracht, und du weinst?«, schalt sie mein Vater mit betrübtem Blick, so ganz anders, als sei ihm alle Lebensfreude ausgeronnen.
Das dürftige Licht
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