J.D.SALINGER Neun Erzählungen
darunter ein Gasmaskenbehälter aus Segeltuch voller Bücher, die ich von der anderen Seite mitgebracht hatte. (Die Gasmaske selbst hatte ich einige Wochen zuvor durch ein Bullauge der Mauretania geschmissen, da mir völlig klar war, dass ich, falls der Feind Gas einsetzte, das verdammte Ding nie im Leben rechtzeitig aufgesetzt bekäme.) Ich weiß noch, wie ich sehr lange an einem Endfenster in unserer Nissenhütte stand und auf den schräg fallenden trostlosen Regen blickte und mein Abzugsfinger unmerklich zuckte, wenn überhaupt. Hinter mir hörte ich das unkameradschaftliche Kratzen vieler Füllfedern auf vielen Bögen V - Mail - Papier. Unvermittelt, ohne etwas Besonderes im Sinn, trat ich vom Fenster weg und zog Regenmantel, Kaschmirschal, Galoschen, Wollhandschuhe und Schiffchen an (Letzteres trug ich, wie man mir noch heute sagt, in einem ganz eigenen Winkel – ein wenig über beide Ohren gezogen). Dann, nachdem ich meine Armbanduhr nach der Wanduhr in der Latrine gestellt hatte, ging ich den langen, nassen, kopfsteingepflasterten Hang in die Stadt hinab. Die Blitze um mich herum ignorierte ich. Entweder man stand auf der Liste oder eben nicht.
In der Stadtmitte, die wahrscheinlich der nässeste Teil der Stadt war, blieb ich vor einer Kirche stehen, um das Schwarze Brett zu lesen, vor allem, weil die Ziffern darauf, weiß auf schwarz, meine Aufmerksamkeit erregt hatten, teils aber auch, weil ich nach drei Jahren bei der Armee süchtig danach geworden war, Schwarze Bretter zu lesen. Um drei Uhr fünfzehn, so erklärte das Brett, finde eine Probe des Kinderchors statt. Ich schaute auf meine Armbanduhr und wieder aufs Brett. Angeschlagen war noch ein Blatt Papier mit den Namen der Kinder, die an der Probe teilnehmen sollten. Im Regen stehend, las ich alle Namen, dann betrat ich die Kirche.
Ungefähr ein Dutzend Erwachsene waren über die Bänke verteilt, einige hatten Paare kleiner Gummiüberschuhe auf dem Schoß, Sohlen nach oben. Ich ging weiter und setzte mich in die erste Reihe. Auf dem Podium saßen, in drei kompakten Reihen Kinostühlen, ungefähr zwanzig Kinder, hauptsächlich Mädchen; das Alter der Kinder reichte von sieben bis dreizehn. Gerade wurden sie von ihrer Chorleiterin, einer mächtigen Frau in Tweed, aufgefordert, den Mund beim Singen ein wenig weiter zu öffnen. Ob denn jemand, fragte sie, schon einmal von e inem kleinen Piepmatz gehört habe, der es wagte, sein reizendes Lied zu singen, ohne zunächst seinen kleinen Schnabel weit, weit, weit aufzusperren? Offenbar hatte noch keiner davon gehört. Alle blickten sie fest und undurchdringlich an, schließlich sagte sie, dass alle Kinder den Sinn der Worte, die sie sängen, aufnehmen sollten und sie nicht einfach nur schreien wie dusselige Papageien. Dann blies sie einen Ton auf ihrer Stimmpfeife, und wie minderjährige Gewichtheber hoben die Kinder ihre Gesangbücher.
Sie sangen ohne Instrumentalbegleitung – oder, in ihrem Fall genauer, ohne jede Einmischung. Ihre Stimmen waren melodiös und unsentimental fast bis zu einem Punkt, an dem ein etwas religiöserer Mensch als ich ohne Anstrengung eine Levitation erlebt hätte. Einige der allerjüngsten Kinder verschleppten das Tempo ein klein wenig, aber so, dass nur die Mutter des Komponisten etwas daran auszusetzen gehabt hätte. Ich hatte das Lied noch nie gehört, doch ich hoffte immerzu, es wäre eins mit einem Dutzend oder mehr Strophen. Ich ließ den Blick über die Gesichter aller Kinder schweifen, betrachtete aber besonders das eines Mädchens, das mir am nächsten auf dem Stuhl am Ende der ersten Reihe saß. Sie war ungefähr dreizehn, hatte glattes, aschblondes Haar auf Ohrläppchenlänge, eine erlesene Stirn und blasierte Augen, die, so dachte ich, das Publikum abschätzen mochten. Ihre Stimme hob sich von den anderen Kinderstimmen deutlich ab, und zwar nicht nur, weil sie mir am nächsten saß. Sie hatte das beste obere Register, das lieblichste, das sicherste, und sie gab automatisch die Richtung vor. Die junge Dame selbst hingegen wirkte von ihren gesanglichen Qualitäten ein klein wenig gelangweilt, vielleicht aber auch nur von Zeit und Ort; zweimal sah ich sie zwis c hen den Strophen gähnen. Es war ein damenhaftes Gähnen, eines mit geschlossenem Mund, aber es blieb einem nicht verborgen; ihre Nasenflügel verrieten sie.
Kaum war das Lied zu Ende, gab die Chorleiterin ihre weitschweifige Meinung über Leute zum Besten, die während der Predigt des Pfarrers nicht die Füße
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