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J.D.SALINGER Neun Erzählungen

Titel: J.D.SALINGER Neun Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unknown
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scheußlicher Tag sei.
    »Ja, allerdings«, sagte mein Gast mit der klaren, unverwechselbaren Stimme einer Small - Talk - Verächterin. Sie legte die Finger flach auf die Tischkante wie jemand bei einer Séance und schloss dann fast gleichzeitig die Hände – die Nägel waren bis zum Fleisch abgekaut. Sie trug eine Armbanduhr, die etwas Militärisches hatte, fast wie der Chronograf eines Navigators. Das Zifferblatt war viel zu groß für ihr schmales Handgelenk. »Sie waren bei der Chorprobe«, sagte sie nüchtern. »Ich habe Sie gesehen.«
    Ich sagte, ja, ich sei da gewesen, und dass ich ihre Stim m e getrennt von den anderen hätte singen hören. Ich sagte, ich fände, sie habe eine sehr gute Stimme.
    Sie nickte. »Ich weiß. Ich werde einmal Berufssängerin.«
    »Tatsächlich? Oper?«
    »Großer Gott, nein. Ich werde Jazz im Radio singen und haufenweise Geld machen. Und wenn ich dann dreißig bin, werde ich mich zurückziehen und auf einer Ranch in Ohio leben .«
    S ie fasste sich mit der flachen Hand auf den triefnassen Kopf. »Kennen Sie Ohio?«, fragte sie.
    Ich sagte, ich sei einige Male mit dem Zug durchgefahren, kennte es aber eigentlich nicht. Ich bot ihr ein Stück Zimttoast an.
    »Nein danke«, sagte sie. »Ich esse wie ein Vögelchen.«
    Ich biss selbst von dem Toast ab und meinte, in Ohio gebe es einige mächtig raue Landschaften.
    »Ich weiß. Das hat mir mal ein Amerikaner, den ich kennenlernte, erzählt. Sie sind der elfte Amerikaner, den ich kennenlerne.«
    Ihr Kinderfräulein bedeutete ihr nun eindringlich, an ihren Tisch zurückzukehren – das heißt, den Mann nicht weiter zu stören. Doch meine Besucherin verrückte in aller Ruhe ihren Stuhl ein paar Zentimeter so, dass ihr Rücken jede mögliche weitere Kommunikation mit dem Heimattisch abbrach. »Sie gehen zu dieser geheimen Nachrichtenschule auf dem Berg, nicht wahr?«, erkundigte sie sich lässig.
    So sicherheitsbewusst wie jeder andere auch erwiderte ich, ich besuchte Devonshire aus gesundheitlichen Gründen.
    »Ach, wirk lich «, sagte sie, »ich bin nicht von gestern, müssen Sie wissen.«
    Ich sagte, da sei ich mir sicher. Ein Weilchen trank ich m einen Tee. Ich wurde ein wenig haltungsbewusst und setzte mich auf meinem Stuhl etwas gerader hin.
    »Für einen Amerikaner wirken Sie recht intelligent«, sinnierte mein Gast.
    Ich sagte, das sei eine ganz schön snobistische Bemerkung, wenn man einmal darüber nachdächte, und dass ich hoffte, sie sei ihrer unwürdig.
    Sie errötete – und verlieh mir damit automatisch die gesellschaftliche Sicherheit, die mir gefehlt hatte. »Hm. Die meisten Amerikaner, die ich gesehen habe, benehmen sich wie die Tiere. Ständig knuffen sie einander und beleidigen jeden und – Wissen Sie, was einer von denen gemacht hat?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Einer von denen hat bei meiner Tante eine leere Whiskeyflasche durchs Fenster geworfen. Zum Glück war das Fenster offen. Finden Sie das denn sehr intelligent?«
    Ich fand es nicht besonders intelligent, aber das sagte ich ihr nicht. Ich sagte, viele Soldaten auf der ganzen Welt seien sehr weit weg von zu Hause und nur wenige hätten viele wirkliche Vorteile im Leben gehabt. Ich sagte, ich hätte gemeint, die meisten könnten sich das auch selbst denken.
    »Möglich«, sagte mein Gast ohne Überzeugung. Wieder hob sie die Hand zu ihrem nassen Kopf, zupfte an ein paar schlaffen blonden Haarfäden, versuchte, ihre entblößten Ohrenränder zu bedecken. »Meine Haare triefen«, sagte sie. »Ich sehe zum Fürchten aus .«
    S ie sah zu mir her. »Trocken sind meine Haare ganz wellig.«
    »Das kann ich sehen, ja, das sehe ich.«
    »Nicht richtig gelockt, aber ganz wellig«, sagte sie. »Sind Sie verheiratet?«
    Ich sagte Ja.
    Sie nickte. »Lieben Sie Ihre Frau sehr? Oder bin ich jetzt zu persönlich?«
    Ich sagte, wenn sie es sei, würde ich es sagen.
    Sie legte Hände und Handgelenke weiter nach vorn auf dem Tisch, und ich weiß noch, dass ich zu der riesigen Armbanduhr, die sie trug, etwas bemerken wollte – vielleicht vorschlagen, sie solle sie um die Taille tragen.
    »Für gewöhnlich bin ich nicht sehr soziabel«, sagte sie und musterte mich, um zu sehen, ob ich die Bedeutung dieses Wortes kannte. Ich gab jedoch nichts zu erkennen, weder in die eine noch in die andere Richtung. »Ich bin einfach nur hergekommen, weil ich fand, dass Sie extrem einsam aussahen. Sie haben ein extrem sensibles Gesicht.«
    Ich sagte, sie habe recht, ich hätte mich tatsächlich

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