J.D.SALINGER Neun Erzählungen
hinunter. »Ich muss jetzt gehen. Ehrlich. Es hat mich gefreut – «
»Einen Moment noch – setz dich noch mal einen Augenblick hin«, sagte Nicholson. »Hast du schon mal daran gedacht, in die Forschung zu gehen, wenn du groß bist? Medizinische Forschung oder etwas dergleichen? Mir scheint, mit deinem Kopf könntest du irgendwann – «
Teddy antwortete, aber ohne sich zu setzen. »Einmal habe ich daran gedacht, vor zwei Jahren«, sagte er. »Ich h abe mit einigen Ärzten gesprochen .« E r schüttelte den Kopf. »Mich würde das nicht sehr interessieren. Die Ärzte bleiben zu dicht an der Oberfläche. Sie reden immerzu von Zellen und solchen Sachen.«
»Ach? Du misst der Zellstruktur keine Bedeutung bei?«
»Doch, natürlich. Aber die Ärzte reden über die Zellen, als hätten die allein für sich so eine grenzenlose Bedeutung. Als gehörten sie gar nicht zu der Person, die sie hat .« T eddy strich sich mit einer Hand die Haare aus der Stirn. »Ich habe meinen Körper wachsen lassen«, sagte er. »Das hat niemand sonst für mich getan. Wenn ich ihn also habe wachsen lassen, muss ich ja auch gewusst haben, wie ich ihn wachsen lasse. Unbewusst wenigstens. Ich mag irgendwann in den letzten paar Hunderttausend Jahren das be wusste Wissen verloren haben, wie ich ihn wachsen lasse, trotzdem ist das Wissen noch da, denn ich habe es ja – offensichtlich – benutzt . … Es würde eine ganze Menge Meditieren und Ausleeren erfordern, um das Ganze zurückzuholen – ich meine, das bewusste Wissen – , aber wenn man es wollte, könnte man es auch. Wenn man sich weit genug öffnen würde .« U nvermittelt langte er nach unten und nahm Nicholsons rechte Hand von der Armlehne. Er schüttelte sie nur einmal, herzlich, und sagte: »Auf Wiedersehen. Ich muss los .« U nd dieses Mal konnte Nicholson ihn nicht mehr zurückhalten, so schnell bahnte er sich seinen Weg durch den Gang.
Nicholson saß, nachdem er gegangen war, noch einige Minuten regungslos da, die Hände auf den Armlehnen des Liegestuhls, die unangezündete Zigarette noch immer zwischen den Fingern seiner linken Hand. Schließlich hob er die rechte und gebrauchte sie, als wollte er prüfen, ob sein Kragen noch offen war. Dann zündete er sich die Zigarette an und saß wieder ganz still da.
Er rauchte die Zigarette bis zum Ende, schwenkte dann abrupt einen Fuß über die Liegestuhlkante, trat auf die Zigarette, stand auf und lief ziemlich schnell aus dem Gang hinaus.
Über die Vorschiffstreppe stieg er einigermaßen rasch zum Promenadendeck hinunter. Ohne dort stehen zu bleiben, ging er weiter hinunter, noch immer recht schnell, aufs Hauptdeck. Dann auf Deck A. Dann auf Deck B. Dann auf Deck C. Dann auf Deck D.
Auf Deck D endete die Vorschiffstreppe, und Nicholson blieb einen Augenblick stehen, anscheinend ratlos, wohin er sich wenden sollte. Dann aber erspähte er jemanden, der imstande schien, ihm weiterzuhelfen. Auf halbem Weg den Gang entlang saß eine Stewardess vor einer Kombüse auf einem Stuhl, las eine Illustrierte und rauchte eine Zigarette. Nicholson ging zu ihr, befragte sie kurz, dankte ihr, ging dann einige Schritte weiter Richtung Vorschiff und öffnete eine schwere Metalltür, auf der stand: ZUM SCHWIMMBAD. Sie führte auf eine schmale, teppichlose Treppe.
Er war wenig mehr als die Hälfte der Treppe hinabgegangen, als er einen alles durchdringenden, anhaltenden Schrei hörte – eindeutig von einem kleinen, weiblichen Kind. Es war ein heftig schwingender Ton, als hallte er zwischen vier gefliesten Wänden.
Zentaur 12-07-01
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