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J.D.SALINGER Neun Erzählungen

Titel: J.D.SALINGER Neun Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unknown
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eine Antwort.
    »Du bist kein Admiral. Du bist eine Dame «, sagte Lionel. Seine Sätze waren in der Regel mindestens einmal durch falsche Atemtechnik unterbrochen, sodass die betonten Wörter, statt anzusteigen, sanken. Boo Boo lauschte nicht nur seiner Stimme, sie schien sie sogar zu beobachten.
    »Wer hat dir das gesagt? Wer hat gesagt, ich sei kein Admiral?«
    Lionel antwortete, aber unhörbar.
    » Wer ?«, fragte Boo Boo.
    »Papa.«
    Noch immer in der Hocke, schob Boo Boo die linke Hand durch das V ihrer Beine und berührte die Anlegerplanken, um das Gleichgewicht zu halten. »Dein Papa ist ein netter Kerl«, sagte sie, »aber er ist wahrscheinlich die größte mir bekannte Landratte. Es ist vollkommen richtig, wenn ich im Hafen bin, dann bin ich eine Dame – das ist richtig. Doch meine wahre Berufung ist vor allem anderen und immerdar das weite – «
    »Du bist kein Admiral«, sagte Lionel.
    »Wie bitte?«
    »Du bist kein Admiral. Du bist immer eine Dame.«
    Eine kurze Stille entstand. Lionel füllte sie, indem er den Kurs seines Fahrzeugs erneut wechselte – er hielt die Pinne beidarmig. Er trug kakifarbene Shorts und ein sauberes weißes T – Shirt, auf der Brust ein farbiges Bild v on Jerome dem Strauß, der Geige spielt. Lionel war ziemlich gebräunt, und seine Haare, nach Farbe und Beschaffenheit fast genau wie die seiner Mutter, waren oben ein wenig von der Sonne gebleicht.
    » Viele glauben, dass ich kein Admiral bin«, sagte Boo Boo, die Lionel beobachtete. »Nur weil ich es nicht herumposaune .«
    D as Gleichgewicht haltend, holte sie eine Zigarette und Streichhölzer aus der Seitentasche ihrer Jeans. »Ich bin fast nie versucht, mit Leuten über meinen Dienstgrad zu diskutieren. Schon gar nicht mit kleinen Jungs, die mich nicht mal ansehen, wenn ich mit ihnen spreche. Da würde ich ja aus dem verflixten Dienst fliegen .«
    O hne sich die Zigarette anzuzünden, erhob sie sich plötzlich, stand übertrieben aufrecht da, machte aus Daumen und Zeigefinger der rechten Hand ein Oval, führte das Oval an den Mund und stieß – wie mit einem Kazoo – einen Ton ähnlich einem Hornsignal aus. Sogleich blickte Lionel auf. Aller Wahrscheinlichkeit nach war er sich bewusst, dass das Signal Schwindel war, gleichwohl wirkte er zutiefst erregt; ihm fiel das Kinn herunter. Boo Boo ließ das Signal – ein eigentümliches Gemisch aus »Zapfenstreich« und »Weckruf« – dreimal ohne Pause ertönen. Dann salutierte sie förmlich zum gegenüberliegenden Uferstreifen hin. Als sie wieder am Rand des Anlegers in die Hocke ging, schien sie dies mit dem größten Bedauern zu tun, als wäre sie soeben von einem der Werte der Marinetradition, der der Allgemeinheit und kleinen Jungs verschlossen war, tief berührt gewesen. Einen Augenblick lang schaute sie auf den belanglosen Horizont des Sees und schien sich dann zu erinnern, dass sie nicht vollständig allein war. Sie schaute – würdevoll – auf Lionel hinab, dem noch immer der Mund offen stand. »Das war ein geheimes Hornsignal, das nur Admirale hören dürfen.«
    Sie zündete sich ihre Zigarette an und blies das Streichholz mit einem theatralisch dünnen, langen Rauchstrom aus. »Wenn jemand erfahren würde, dass ich dich dieses Signal habe hören lassen – «
    S ie schüttelte den Kopf. Erneut fixierte sie den Sextanten ihres Auges auf den Horizont.
    »Mach’s noch mal.«
    »Unmöglich.«
    »Warum?«
    Boo Boo zuckte die Achseln. »Zum einen zu viele niedrige Offiziere in der Gegend .«
    S ie wechselte die Haltung und ging in den Schneidersitz. Sie zog sich die Socken hoch. »Ich sage dir aber, was ich mache«, sagte sie nüchtern. »Wenn du mir sagst, warum du wegläufst, dann spiele ich dir jedes geheime Hornsignal vor, das ich kenne. In Ordnung?«
    Sofort schaute Lionel wieder aufs Deck hinunter. »Nein«, sagte er.
    »Warum nicht?«
    »Darum.«
    »Warum darum?«
    »Weil ich nicht will«, sagte Lionel und riss, um es zu unterstreichen, die Pinne herum.
     
     
    Boo Boo schirmte die rechte Gesichtshälfte gegen den grellen Schein der Sonne ab. »Du hast mir gesagt, mit dem Weglaufen sei es vorbei«, sagte sie. »Wir haben darüber gesprochen, und du hast mir gesagt, es sei vorbei. Du hast es mir versprochen.«
    Lionel gab eine Antwort, aber sie war nicht zu hören.
    »Was?«, sagte Boo Boo.
    »Das hab ich nicht versprochen.«
    »O doch, das hast du. Das hast du ganz sicher.«
    Lionel steuerte wieder sein Boot herum. »Wenn du ein Admiral bist«, sagte er, »wo

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