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J.D.SALINGER Neun Erzählungen

Titel: J.D.SALINGER Neun Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unknown
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Verständnisfehler Lionels, der kike, pejorativ für Jude, als kite, Drachen, versteht.
    Nur so eben wahrnehmbar zuckte Boo Boo zusammen, doch sie hob den Jungen von ihrem Schoß, stellte ihn vor sich hin und strich ihm die Haare aus der Stirn. »Das hat sie gesagt, hm?«, sagte sie.
    Lionel hob und senkte emphatisch den Kopf. Noch immer weinend kam er näher, stellte sich zwischen die Beine seiner Mutter.
    »Na, das ist ja nicht so schlimm«, sagte Boo Boo und hielt ihn mit Armen und Beinen fest umschlungen. »Das ist nicht das Schlimmste , was passieren könnte .«
    S anft biss sie dem Jungen in den Rand des Ohrs. »Weißt du denn, was ein kike ist, Süßer?«
    Lionel war entweder nicht bereit oder nicht in der Lage, gleich zu sprechen. Jedenfalls wartete er, bis der Schluckauf vom Weinen ein wenig nachgelassen hatte. Dann erfolgte seine Antwort, gedämpft, aber hörbar, in die Wärme von Boo Boos Nacken. »Das ist so ein Ding, das in die Luft geht«, sagte er. »Mit einer Schnur zum Festhalten.«
    Um ihn besser ansehen zu können, stieß Boo Boo ihren Sohn leicht von sich weg. Dann schob sie ihm heftig eine Hand in den Hosenboden, was den Jungen ungeheuer verblüffte, zog sie aber fast sofort wieder heraus und stopfte ihm ordentlich das Hemd in die Hose. »Weißt du was«, sagte sie, »wir fahren in die Stadt und kaufen Pickles und auch Brot, und dann essen wir die Pickles im Auto, und dann fahren wir zum Bahnhof und holen Papa ab, und dann bringen wir Papa nach Hause und sagen ihm, er soll uns im Boot rumfahren. Du musst ihm aber helfen, die Segel zu tragen. Okay?«
    »Okay«, sagte Lionel.
    Sie gingen nicht zum Haus zurück, sie rannten um die Wette. Lionel siegte.
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
    FÜR ESMÉ – IN LIEBE UND ELEND
     
    Erst kürzlich erhielt ich per Luftpost eine Einladung zu einer Hochzeit, die am 18. April in England stattfinden wird. Zufällig ist es eine Hochzeit, an der ich nur zu gern teilnähme, und als die Einladung eintraf, glaubte ich zunächst, es könnte mir gerade noch so möglich sein, die Auslandsreise zu machen, mit dem Flugzeug, Kosten hin oder her. Allerdings habe ich die Angelegenheit seither recht ausführlich mit meiner Frau besprochen, einem atemberaubend vernünftigen Wesen, und wir haben uns dagegen entschieden – zum Beispiel hatte ich vollkommen vergessen, dass meine Schwiegermutter sich schon darauf freut, die letzten beiden Aprilwochen bei uns zu verbringen. Ich bekomme Mutter Grencher wirklich nicht schrecklich oft zu Gesicht, und sie wird auch nicht jünger. Sie ist achtundfünfzig. (Was sie als Erste zugeben würde.)
    Aber egal, wo immer ich auch bin, ich bin wohl nicht der Typ, der keinen Finger rührt, um zu verhindern, dass eine Hochzeit flachfällt. Entsprechend habe ich mir einige aufschlussreiche Notizen über die Braut gemacht, wie ich sie vor fast sechs Jahren kennengelernt habe. Sollten meine Notizen dem Bräutigam, den ich nicht kenne, den einen oder anderen Moment der Unruhe bescheren, umso besser. Niemand will hier gefallen. Sondern eher erbauen, belehren.
    Im April 1944 war ich einer von rund sechzig amerikanischen Rekruten, die an einer ziemlich spezialisierten, vom britischen Geheimdienst im englischen Devon durchgeführten Prä - Invasions - Ausbildung teilnahmen. Und wenn ich nun zurückblicke, will mir scheinen, dass wir ziemlich einzigartig waren, wir sechzig, und zwar weil in unserer Truppe nämlich kein Einziger so richtig gesellig war. Wir schrieben im Grunde alle nur Briefe, und wenn wir außerhalb des Dienstes miteinander sprachen, dann meistens nur, um einen zu fragen, ob er ein wenig Tinte übrig habe. Wenn wir nicht gerade Briefe schrieben oder im Unterricht waren, ging jeder eher seiner eigenen Wege. Meiner führte mich, an schönen Tagen, zumeist auf malerische Rundgänge durch die Landschaft. An Regentagen saß ich im Allgemeinen an einem trockenen Plätzchen und las ein Buch, häufig nur auf Axtlänge von einer Tischtennisplatte.
    Das Ausbildungsprogramm dauerte drei Wochen und endete an einem Samstag, einem sehr regnerischen. An jenem letzten Abend sollte unsere ganze Gruppe um sieben mit dem Zug nach London fahren, wo wir, so das Gerücht, Infanterie - und Luftlandedivisionen zugeteilt werden sollten, die für die D - Day - Landungen bereitgestellt waren. Um drei Uhr nachmittags hatte ich meine gesamte Habe in meinen Seesack gepackt,

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