Je länger, je lieber - Roman
Mittagssonne hielt er sich den Unterarm als Schirm über die Augen, mit der anderen wies er über die Weinfelder hin zu einem kleinen weißen Steinhaus, das in gut vierhundert Metern Entfernung unter einer einzelnen Rotbuche stand. »Dort drüben ist es.« Pedro legte ihr lächelnd die Hand auf die Schulter. »Lassen Sie sich nicht von ihm einschüchtern. Außer auf meine Tochter, meine Frau und mich trifft er nicht mehr oft auf Menschen.« Dann verschwand er wieder in seinem Garten und stellte den Rasensprenger an.
»Dann wollen wir mal«, flüsterte Mimi und machte sich auf den Weg zur letzten Station ihrer Reise.
Es war ein schöner Spaziergang durch die Felder, den ausgedorrten Trampelpfad entlang. Es roch nach trockenem Gras, nach Erde und nach Trauben. Der Himmel stand flirrend über ihr, die Sonne wärmte ihre Haut. Es tat gut, in dieser vollkommenen Stille allein zu laufen, nur den eigenen Atem zu hören und die Umgebung ganz bewusst wahrzunehmen. Als Mimi zehn Minuten später an die offen stehende Haustür des Steinhauses klopfte, war sie ganz klar. Weil sich drinnen nichts rührte, traute sie sich ein paar Schritte in die Küche hinein, in der ein Tisch, zwei Stühle und ein Herd standen, auf dem Bord ein paar Teller, Tassen und Gläser. Am Fuß der Treppe, die hinauf in den ersten Stock führte, blieb sie stehen. »Jacques?«
Vielleicht war er taub? Nein! Wie hätte Pedro dann mit ihm telefonieren sollen!
Glücklicherweise war aus dem ersten Stock eine schwache Männerstimme zu hören. »Hier oben!«
Sollte sie hinaufgehen? Die ausgetretenen Holzstufen knarrten unter ihren Schritten. Durch ein kleines Fenster strömte das helle Mittagslicht ins obere Stockwerk und breitete sich warm über den Dielenboden aus. Es gab zwei Zimmer, eins war verschlossen, die Tür zum anderen stand offen. »Jacques?«
Mimi ging langsam darauf zu und blickte zögernd um die Ecke. Was für ein Mensch erwartete sie wohl? Das einzige Bild, das sie von ihm kannte, war das zwanzig Jahre alte Foto aus Lunenburg, auf dem er rüstig und mit Strohhut zwischen ihren Eltern stand. Doch ehe sie diesen Gedanken zu Ende denken konnte, blickte sie in das offene Gesicht eines uralten Mannes, der im hellen Pyjama und Lederpantoffeln auf einem breiten Bett lag, mit einer Menge Kissen im Rücken. Er sah ihr aus tiefgrünen, jungenhaften Augen entgegen. Sein Haar war silbrig grau und lockig. Er machte eine zittrige Handbewegung und wies auf die Bettkante. »Setzen Sie sich.«
Langsam kam Mimi näher. Er hatte nichts Einschüchterndes an sich, im Gegenteil. Er sah aus, als hätte er ihren Besuch seit Langem erwartet. Nicht erst, seit Pedro bei ihm angerufen hatte, um sie anzukündigen. Er wirkte weder erstaunt noch befremdet, und ihr ging es ganz genauso. Ihr war, als würde sie ihren eigenen Großvater nach einer langen Reise besuchen, um ihm zu erzählen, was in der Zwischenzeit passiert war. Sie fühlte sich seltsam aufgehoben in diesem Raum, in dem ein einfacher Kleiderschrank stand und die bodenlangen Vorhänge vor dem Fenster halb zugezogen waren, sodass ein breiter Lichtbalken über den schmalen Körper des alten Mannes fiel. Er klopfte auf die Matratze neben sich. »Na kommen Sie! Setzen Sie sich.«
Mimi trat näher heran und reichte Jacques die Hand. »Guten Tag. Es tut mir leid, leider spreche ich weder fließend Spanisch noch …«
Doch Jacques unterbrach sie. »Wir können gerne auf Deutsch reden. Ich habe Jahre meines Lebens damit zugebracht, diese Sprache perfekt zu beherrschen. Nun will ich sie endlich mal wieder anwenden. Mein Sohn sagte mir, Sie sind eine Verwandte von …«, er machte eine kurze Pause, bevor er ihren Namen beinahe andächtig flüsternd aussprach, »… von Clara Zweig?« Und in diesem zärtlichen Wispern, so schien es Mimi zumindest, lag bereits die ganze Geschichte ihrer Liebe verborgen. Sein Blick blieb an Mimi hängen, als befürchtete er, sie könnte den Kopf schütteln und sagen: »Das muss ein Missverständnis sein.« Seine Augen blinzelten aufgeregt, wobei sein Gesicht weiterhin Ruhe ausstrahlte. Offenbar hatte er gelernt, sich mit Gefühlsregungen, Clara betreffend, zu zügeln.
»Ich bin ihre Enkelin.« Zaghaft setzte sich Mimi auf die Bettkante.
»Ihre Enkelin?« Jacques zog die Augenbrauen hoch. Mit einem Mal klang seine Stimme kühl. »So, so.«
Versuchte er sich zu schützen? Oder glaubte er ihr nicht? Sah sie ihrer Großmutter denn nicht ein wenig ähnlich? Nun, sie hatte keine Locken wie
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