Je länger, je lieber - Roman
können.«
»War sie bewusstlos? Warum hast du mich nicht sofort geweckt?« Mimi sah Margarete fassungslos an. Diese durch und durch korrekte Frau, die sich schon seit so vielen Jahren um das Haus und ihre Großmutter kümmerte und immer zu wissen schien, was sie tat, schaute nun, als wäre ihr ein schrecklicher Fehler unterlaufen. »Ich habe es versucht, aber Sie haben so fest geschlafen. Was sollte ich machen?«
»Ist schon gut …« Mimi legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm.
Doch Margarete fuhr entschuldigend fort: »Die rechte Barriere war nicht hochgestellt, sodass sie vermutlich im Schlaf aus dem Bett gerollt sein muss.«
Mimi stutzte. Über ihren Köpfen flatterte eine grausilbrige Taube in die Baumwipfel hinauf und ließ sich dort mit lautem Gurren nieder. »Das ist unmöglich! Ich habe die Barrieren gestern Abend selber hochgestellt.«
»Ich verstehe es auch nicht.« Margarete zuckte unglücklich mit den Schultern. »Wollen Sie nicht hereinkommen und sich setzen?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, schob die Haushälterin Mimi in den niedrigen Wohnraum hinein. Kein Wort darüber, in welchem Krankenhaus Clara lag, wie es ihr ging, ob sie ansprechbar war oder was der Notarzt gesagt hatte. Wenn eine beinahe Hundertjährige aus dem Bett fiel und sich eine Verletzung am Kopf zuzog, war das eine gefährliche Sache. Mimi wollte sofort ins Krankenhaus fahren, aber Margarete schien nicht gewillt zu sein, ihr zwischen Tür und Angel Auskunft zu geben. War es so ernst? Wollte sie, dass Mimi saß, wenn sie ihr die furchtbare Nachricht übermittelte?
Margarete schloss die Tür hinter ihnen und unterbrach damit Mimis sorgenvolle Gedanken. »Setzen Sie sich.«
Mimi ließ sich auf einen der Hocker sinken, die um den Küchentisch standen, und stellte das Kästchen mit dem Kompass vor sich hin. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie ihn noch immer in der Hand hielt. Hatte Clara in der Nacht danach gesucht? War es Mimis Schuld, dass ihre Großmutter gestürzt war? Nervös klopfte sie mit den Fingern auf die Tischplatte. Doch Margarete hatte sich bereits abgewandt und setzte Kaffee auf. Machte sie sich Vorwürfe, dass sie Mimi nicht wachgerüttelt hatte? Hatte sie Sorge, dass Mimi ihre haushälterischen Fähigkeiten infrage stellte? Oder befürchtete sie sogar, dass sie überflüssig wurde, weil Mimi jetzt wieder hier wohnte? Die Angst war doch vollkommen grundlos. Margarete gehörte hierher. Genau wie das Gesindehaus, dessen Wände bis zu den Deckenbalken mit windschiefen Holzregalen zugestellt waren, in denen getöpferte Vasen und Becher neben weißen Porzellanelefanten, Teekannen und Tiegeln standen. Bündel von Strohblumen und Bohnenkraut hingen von der Decke herunter. Über das zerschlissene Sofa war eine gehäkelte Decke gebreitet, und im Schaukelstuhl lag noch immer das schwarze Schaffell.
»Der Kaffee ist gleich fertig«, murmelte Margarete, als spürte sie Mimis Anspannung.
»Danke.« Mimi entschloss sich, etwas Geduld mit der Haushälterin zu haben, bis sie sich wieder gefangen hatte.
Als Mädchen hatte Mimi bei Margarete, ihrem Mann und ihren beiden Jungs in kurzen Hosen und karierten Hemden oft die Abende verbracht und Kartoffelsuppe gegessen. Felix und Bruno waren ihre Idole gewesen. Wegen der Jungs war Mimi mindestens drei Sommer lang ebenfalls in kurzen Hosen und Karohemden herumgelaufen. Sie war mit ihnen auf die Apfelbäume geklettert, quer durch den Wald zum Wasserfall gelaufen, die schroffe Felswand emporgeklettert und mit ihnen im Waldsee geschwommen. Sie hatten Kaulquappen in Weckgläsern gefangen und sich im Wald eine Räuberhöhle aus Ästen und Zweigen errichtet. Einmal hatten sie sogar versucht, einen Mäusezirkus aufzuziehen.
»Greifen Sie zu!« Margarete nahm den Kaffee vom Herd und stellte noch Brot und Marmelade dazu. Die helle Morgensonne drängte sich durch die Fenster und ließ alles in einem märchenhaften Licht erscheinen. Jetzt war die Haushälterin wieder in ihrem Element, langsam kam ihre Sicherheit zurück. »Ich habe schon im Krankenhaus angerufen. Clara soll zur Beobachtung dort bleiben.« Margarete straffte ihre Schultern. »Was ich für vollkommen übertrieben halte.«
»Zur Beobachtung? War es so schlimm?«
»Wegen ihres Herzens. Die Ärzte glauben, dass sie ihr besser helfen können, als …«
Margarete unterbrach sich selbst, als sie plötzlich das Holzkästchen mit dem Kompass entdeckte und geräuschvoll die Butterdose auf dem Tisch abstellte.
»Woher haben Sie das?«
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