Je mehr ich dir gebe (German Edition)
die Jonas geholt hat, den Film.«
Der Vater zückt sein iPhone und notiert, was Julia behalten möchte: Lederjacke, das grüne T-Shirt mit den Spatzen drauf, eine von seinen Bruno-Banani -Unterhosen. Er tippt alles ein, schaut nicht auf, auch nicht bei der Unterhose. Die Chucks, die Jonas am letzten Tag getragen hat, hätte sie auch gern, aber davon gibt es nur noch einen. Der andere ist beim Unfall verloren gegangen.
»Und den einen … einen …«
»Schuh?«, hilft der Vater, wie ein ungeduldiger Kellner.
Mama hat den Film gekauft, hat das irgendwie mit dem Video-Verleih geregelt, denn Julia wollte genau diese Kopie haben, die, die Jonas geholt hatte, an dem Unfalltag. Der Himmel über Berlin. Schwester Petra hat das Blut von der Hülle gewischt. Aber die Hülle hat einen Sprung, wie die Brille von John Lennon, als er erschossen wurde. Jonas ist nicht erschossen worden. Er wurde überfahren. Der Fahrer des Lieferwagens, ein 38-jähriger Familienvater, der ihm die Vorfahrt genommen hat, wird jetzt seines Lebens nicht mehr froh.
Nach dem vierten Tag geht Julia wieder in die Schule. Alle starren sie an, als hätte sie die Pest. Fremde Mädchen fangen an zu weinen. Andere weichen ihr aus, als wäre sie ein Geist. Frau Franke, ihre Deutschlehrerin, spricht ganz offen über Jonas’ schrecklichen Tod, mitten im Unterricht. Dabei hat sie ihn gar nicht gekannt, aber sie kann sich gut in andere Personen hineinversetzen. »Ein bisschen mehr Empathie, meine Lieben«, ist ihr Lieblingsspruch. Aber das ist nicht eine von ihren Liebesgeschichten, die sie analysieren sollen, das ist Julias Geschichte, Julias und Jonas’, und sie geht keinen was an!
Julias Körper ist ein rohes Stück Fleisch, ohne Haut, und niemand versteht sie, auch nicht Charlotte, obwohl Charlotte sonst alles versteht, klar, denn sie sind seit dem Gymnasium beste Freundinnen, und es gibt auch keinen anderen Menschen, der so viel weiß über sie, außer Jonas. Noch nie hatte sie sich in so kurzer Zeit jemandem so offen gezeigt, sich so preisgegeben, hingegeben, IHM gezeigt, wie sie es am schönsten fand: ganz, ganz langsam und zuerst nur sie allein. Später durfte er ihr dann näher kommen, wenn sie bereit war. Sie konnte ihn verzaubern, denn er vertraute ihr. Und sie ihm. Wie leicht doch alles sein konnte. – Davon hat Charly nicht die geringste Ahnung, obwohl Julia weiß, dass Charly spürt, dass da eine Grenze überschritten wurde, mit der sie nichts zu tun hat. Deswegen ist sie eifersüchtig, auf Jonas.
Alle Wege führen immer wieder zu Jonas. Egal was sie tut, denkt oder hofft. JONAS!
Julia legt sich aufs Bett. Kaum liegt sie, auf dem Rücken, ausgestreckt, da klopft es. Julia weiß nicht, ob an der Tür oder am Fenster. Eigentlich hört es sich so an, als würde von oben aufs Zimmer geklopft, als wäre das Zimmer ein Karton.
Sie kann sich nicht rühren, liegt auf dem Rücken und schaut zum Fenster – da steht Jonas und ruft ihr etwas zu. Er ruft und ruft, sie kann es nicht verstehen, aber sie erkennt an seinen Lippen, was er ruft: JULIA! Und: Lass mich rein! Aber sie kann das Fenster nicht öffnen, es klemmt, sie haut dagegen, legt die Handflächen auf das kalte Glas. Jonas drückt seine Handfläche von der anderen Seite auf ihre. Sie kann ihn nicht fühlen. Das Glas, das sie trennt, bleibt kalt. Plötzlich rutscht Jonas vom Fensterbrett, verschwindet in der Tiefe. Fällt. Julia fällt auch, wacht kurz vor dem Aufprall auf. – Nur ein Traum, aber das kalte Glas ist echt. Herzklopfen. Schweiß auf der Brust.
So geht es jede Nacht, kaum legt sie sich hin, kommt Jonas, er will zu ihr, er will ihr was sagen, aber sie hört ihn nicht.
Was denn, Jonas, was?
Die Zeit scheuert wie Sandpapier. Alles tut weh. Immer. Liegen, stehen, atmen. Essen geht auch nicht. Sie ist ruhelos. Klack-Klack-Klack – immer von einer Wand zur anderen.
Jonas! Ruft es in ihr. JONAS! Aber er gibt keine Antwort.
Den Film hat sie in die Schublade ihres Schreibtisches gelegt. Den kann sie nicht anschauen.
Mama holt sie jeden Tag von der Schule ab, fährt mit ihr zum Bäcker, einkaufen. Das Leben geht weiter. Die Psychologin ist nicht zufrieden mit ihrer Arbeit, sie glaubt, den normalen Trauerprozess noch nicht eingeleitet zu haben. Julia verkrieche sich zu sehr, sagt sie, weil Julia nicht mehr mit ihr sprechen will. Aber was soll sie denn sagen?
Abends sitzt diese Frau in der Küche und Julia soll auch in die Küche kommen. Papa nimmt Julias Hand, wann immer er
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