Je mehr ich dir gebe (German Edition)
Mehrere Fotos von ihr hingen dort. Auch ein Nacktfoto, als sie aus dem Badezimmer kommt. Das Handtuch liegt hinter ihr. Sie geht direkt auf den Fotografen zu. Das war im April, an dem Nachmittag, als er ihr das erste Mal zugeschaut hatte.
Julia seufzte. Sie war glücklich. Sie konnte das Glück fühlen, in ihr und über ihr. Der ganze Raum glühte vor Glück. Jonas! Es gab kein schöneres Wort! Jonas. JOnas, JoNas, JonAs, ihr Prophet der Liebe.
KAPITEL 2
17:12 Uhr
Sie war wohl kurz eingeschlafen. Die weißen Vorhänge wehten nach draußen, ein Fensterflügel schlug an die Wand, Regen pladderte auf den Gehsteig. Von Weitem Sirenen. Sie stand auf und machte das Fenster zu. Es donnerte. Dann ein Blitz und wieder ein Donner. Auf der anderen Straßenseite flüchtete eine Mutter mit ihrem Kind in den nächsten Hauseingang. Die Autos hatten Licht an. Der Bürgersteig dampfte.
Jonas war mit dem Motorrad unterwegs, er würde das Gewitter bestimmt im Videoshop abwarten. Halb fünf. Er war vor einer Stunde losgefahren. Wie lange hatte sie geschlafen? Wie lange regnete es schon?
Sie ging in die Küche und holte sich ein Glas, ging damit zu dem riesigen Edelstahlkühlschrank und ließ das halbe Glas voll Eiswürfel klickern. Der Kühlschrank war das einzige Prunkstück in der WG. Snickers, der Philosophiestudent mit dem Hochbett im Hofzimmer, hatte den Kühlschrank von einem amerikanischen Cousin geschenkt bekommen, bevor der wieder nach Seattle gezogen war. Julia goss Apfelsaft über die Eiswürfel. Sie knusperten im Glas, zersprangen. Sie war immer noch nackt. Regen prasselte an die Scheiben. Sie schauderte, fuhr herum, ihr war, als stünde jemand hinter ihr. Aber da war niemand.
17:00 Uhr. Einen Moment, als sie angezogen in der Küche saß und nach draußen sah und alles verschwommen und dunkel war, fühlte sie ein Ziehen im Zwerchfell und eine Unruhe überkam sie, so, als würde sie schon seit einer Stunde im Stau stehen. Nicht wegkommen, nicht bewegen, hoffen, dass es gleich weitergeht, aber es ging nicht weiter. Ein Albtraum, von dem sie sich nie ablenken konnte. Deshalb mochte sie auch nicht Auto fahren. Mit dem Motorrad war das anders. Jonas konnte sich überall vorbeischlängeln. Auch wenn sie davon Angst bekam, weil manche Autofahrer extra keinen Platz machten und ihr lieber mit der Stoßstange die Knie rasierten, weil sie nicht ertragen konnten, dass Motorradfahrer schneller sind.
17:10 Uhr. Der Apfelsaft schmeckt nicht, nur kalt und süß, und Gänsehaut frisst sich ihre Arme hinauf. Sie steht auf, steht da und vergisst, warum sie aufgestanden ist. Sie hört ihr Herz arbeiten. Es tut sich schwer, als klammere sich etwas daran fest. Julia ringt nach Luft, rennt in Jonas’ Zimmer und sucht nach seinem Handy. Sie findet es nicht. Er muss es mitgenommen haben. Bestimmt war es in seiner Hosentasche.
Sie wühlt in ihrem Rucksack nach ihrem Handy, hält die Luft an; ihre Hände zittern. Zweimal tippt ihr rechter Daumen auf das Display, dann erscheint Jonas’ Nummer, und sie sieht sich zu, wie sie noch einmal tippt und fast erstickt, weil sie immer noch keine Luft geholt hat.
Dann klingelt es.
Und klingelt.
»Hallo?« – Eine Frauenstimme. Gehetzt.
Ihr Daumen drückt das Gespräch weg. Draußen blitzt es, Donner kracht. Ihr Herz rast. Es ist düster und kalt. Eine Fliege brummt um die Küchenlampe. Als ihr Handy klingelt, schreit sie auf und wirft es aufs Bett, als würde sie sich daran verbrennen, springt sofort hinterher, sieht Jonas’ Nummer auf dem Display und nimmt den Anruf an.
»Hallo? Wer ist da?« – Sie hört wieder die gehetzte Frauenstimme.
»Julia«, sagt sie. »Wo ist Jonas?« Sie holt tief Luft. »Ich möchte bitte sofort Jonas sprechen.«
»Hier ist Schwester Petra, Urban-Krankenhaus , Notfallambulanz. Sind Sie eine Verwandte von Jonas Reichenberger?«
»Ich bin seine Freundin.«
»Bitte setzen Sie sich mit Jonas’ Eltern in Verbindung«, sagt die Schwester. »Oder kommen Sie her. Ich kann Ihnen nicht am Telefon … also Ihnen nicht auch noch … habe gerade schon den Eltern gesagt, dass …« Ihre Stimme verwischt.
»Was ist mit Jonas?«
»Er hatte einen Motorradunfall.«
Die Zeit steht still. Nichts bewegt sich. Schmetterlinge fallen vom Himmel.
»Er ist vor wenigen Minuten verstorben.«
Aus den Schmetterlingen werden Wespen. Erst summen sie nur von Weitem, dann kreiseln sie auf sie zu, krabbeln in ihre Nase, in die Ohren. Alles brummt. Und stechen zu.
»Hallo? Sind Sie
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