Je mehr ich dir gebe (German Edition)
Bürgersteig, überholt vier Autos, fährt zurück auf die Straße und biegt bei Rot auf die Stadtautobahn. Alle hinter ihm sind am Hupen. Julia sucht ihr Handy, kaum hat sie es gefunden, schlägt er es ihr aus der Hand, mit so einer Wucht, dass es gegen das Armaturenbrett knallt und zwischen seinen Füßen landet. Ihre Hand ist taub von dem Schlag. Kolja gibt Gas, rast an allen vorbei.
»Du hast alles kaputt gemacht. Es hätte so schön weitergehen können, mit uns dreien.«
»Du bist ja pervers!«, schreit Julia. »Halt sofort an!«
»Wer hier wohl pervers ist. Wer hat denn hier beim Vögeln an einen Toten gedacht? Aber das wäre mir egal gewesen. Ich hätte deine Macke akzeptiert! Wir gehören nämlich zusammen, Julia, wir sind füreinander bestimmt! Ich habe das immer schon gewusst, aber du kapierst es einfach nicht! Du Miststück!«
Macke?
Macke?
Julia wird es eiskalt. Gleich wird Kolja gegen den nächsten Brückenpfeiler fahren und das war’s dann. Dann wird ihr Herz aufhören zu schlagen und sie wird Jonas verlieren. Für immer.
»Kolja, es ist nicht mehr am schönsten zwischen uns!« – Ihre Stimme ist ganz ruhig, schwebt wie ein Engel auf sie herab. »Es hat keinen Sinn, sich umzubringen!«
»Ich weiß, dafür ist es zu spät. Aber wenn du mich nicht willst, dann ist mein Leben eh sinnlos. Ich werde nie wieder jemand anderen lieben!«
»Red doch nicht so einen Scheiß!«, schreit Julia ihn an. Ihre Stimme überschlägt sich. Sie schielt auf den Tacho: 160 km/h.
»Außerdem will ich nicht, dass du irgendwelche fremden Schwänze lutschst.«
»Kolja!!!! Halt an!!!«
Kolja beschleunigt noch mehr. Sie rasen an Autos vorbei, an Häusern, Werbeplakaten, Friedhofsmauern. Kurz vor ihnen schert ein Motorradfahrer aus. Er trägt einen schwarzen Helm und eine braune Lederjacke.
»Vorsicht!«, schreit Julia und schlägt die Hände vors Gesicht, sieht durch die Finger, dass Kolja haarscharf an dem Motorradfahrer vorbeifährt und links fast ein Auto rammt. Plötzlich bremst er ab, klammert sich mit beiden Händen ans Lenkrad, Tränen laufen ihm übers Gesicht, die Tachonadel ist immer noch über 100. Dann hört Julia Sirenen, Lautsprecherstimmen, die Kolja auffordern, die nächste Ausfahrt in 400 Metern zu nehmen. Hinter ihnen sind Polizeiwagen, links neben ihm auch, sie eskortieren ihn zur Ausfahrt. Julia fühlt ihre Beine nicht mehr, ihre Hände, alles ist taub.
Irgendwann stehen sie. Der Verkehr rauscht an ihnen vorbei. Kolja hat den Kopf auf dem Lenkrad, er weint, schluchzt. Jemand klopft an die Scheibe, ruft, er soll die Zentralverriegelung öffnen. Julia sieht, wie hinter dem Polizisten ein anderer steht und die Lage checkt, mit einer Hand an der Waffe. Es klickt, auf ihrer Seite geht die Tür auf. Ein Polizist fasst sie am Arm.
»Sind Sie okay?«
Sie nickt. Der Mann stützt sie und bringt sie in einen anderen Wagen. Um sie herum Stimmen, Blaulicht, Autobahnlärm. Sie sitzt auf einer Rückbank, sieht, wie Kolja breitbeinig vor seinem Wagen lehnt, die Hände auf dem Autodach, und von einem Polizisten abgetastet wird.
»Möchten Sie einen Schluck Wasser?«, fragt eine Polizistin, das Gesicht dicht vor ihrem. »Wie heißen Sie?«
»Julia Bährle.«
»Wer ist der Fahrer?«
»Kolja Graf.«
»Ist das Ihr Freund?«
Julia schaut der Polizistin in die Augen. »Nein«, sagt sie. »Mein Freund ist tot.«
ÜBER DIE AUTORIN
Beate Dölling wurde 1961 in Osnabrück geboren, lebt aber schon seit vielen Jahren in Berlin. Bis 2001 war sie Journalistin beim Radio, seit 2001 arbeitet sie als freie Autorin und hat zahlreiche Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht. Je mehr ich dir gebe ist das erste Buch der Autorin im Boje Verlag.
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