Je mehr Löcher, desto weniger Käse
und wieder zurück. Der zurückgelegte Weg beträgt 2 × h.
Für Paul stellt sich die Szenerie etwas anders dar: Wenn das Licht angeschaltet wird, läuft es nach oben. Zugleich fährt der Zug aber weiter. Das hat zur Folge, dass der eigentlich senkrecht nach oben laufende Lichtstrahl einen Weg schräg nach oben nimmt – siehe Skizze. Das liegt daran, dass der Wagen sich wegen seiner hohen Geschwindigkeit ein ganzes Stück nach rechts bewegt hat, bevor der Lichtstrahl den Spiegel erreicht. Auf dem Weg zurück zum Boden geschieht das Gleiche noch mal.
Das Licht legt aus Pauls Perspektive damit einen längeren Weg zurück als in Svens Augen. Wenn wir zugleich annehmen, dass die Lichtgeschwindigkeit in beiden Fällen gleich groß ist, dann erklärt das bereits, dass die Zeit für beide Zwillinge unterschiedlich schnell vergehen muss. Denn ein und dasselbe Ereignis, der Weg des Lichts zur Decke und zurück, dauert für die Geschwister verschieden lang.
Eine Lichtuhr – zwei Zeiten
Nun rechnen wir die Zeitunterschiede genau aus. Um die Sache zu vereinfachen, betrachten wir nur den Weg des Lichts vom Boden bis zur Decke.
Svens Stoppuhr müsste die Zeit
anzeigen. Das ergibt sich aus der Formel
die wir nach t S umstellen.
Welchen Weg legt der Lichtstrahl in den Augen von Paul zurück, der auf dem Bahnsteig steht? Die gesuchte Länge s istdie Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks. Also gilt der Satz des Pythagoras:
s 2 = h 2 + l 2
Für den Weg s soll der Lichtstrahl die Zeit t p benötigen, also gilt s = c × t P . Die Kathete l können wir leicht mit der Formel l = v × t P ausrechnen, wobei v die Zuggeschwindigkeit ist. Wenn der Lichtstrahl aus Pauls Perspektive die Zeit t P bis zur Decke braucht, dann legt er in dieser Zeit auch die Strecke von v × t P zurück.
All dies setzen wir nun in die Pythagoras-Gleichung von oben ein:
c 2 × t P 2 = c 2 × t S 2 + v 2 × t P 2
Wenn wir diese Gleichung durch c 2 dividieren und dann nach t S 2 auflösen, erhalten wir:
Daraus ziehen wir dann noch die Wurzel – und fertig ist die Formel zur Berechnung der Zeitverkürzung:
Diese Formel verrät uns eine Menge über die Relativitätstheorie. Wenn v, also die Geschwindigkeit, mit der der Zug am Bahnhof vorbeirast, im Verhältnis zur Lichtgeschwindigkeit c klein ist, dann gibt es praktisch keinen Zeitunterschied zwischen Paul und Sven. Das ist zum Beispiel bei Geschwindigkeiten, wie sie ein ICE oder ein Flugzeug erreicht, der Fall.
250 km/h oder 1000 km/h mögen uns zwar ziemlich schnell vorkommen, das Licht ist mit knapp 300.000 Kilometern pro Sekunde (nicht pro Stunde!) aber viel, viel schneller unterwegs. Ein Flugzeug mit 1000 km/h erreicht gerade mal 0,0001 Prozent der Lichtgeschwindigkeit. Der Quotient v/c beträgt dann 0,000001, und v 2 /c 2 ist mit 0,000000000001 so klein, dass t S = t P gilt. Die Welt mit vergleichsweise niedrigen Geschwindigkeiten, wie wir sie kennen, ist in Einsteins Relativitätstheorie also ein Spezialfall, in dem man ihre Formeln nicht anzuwenden braucht.
Vom Postulat zur Theorie und zur Praxis
Fährt der Zug aber mit halber Lichtgeschwindigkeit (v = c/2), dann stoppt Paul am Bahnsteig 10,0 Sekunden, während Sven im Zug 8,7 Sekunden misst. Bei einer Fahrt mit 90 Prozent der Lichtgeschwindigkeit sind es nur noch 4,4 Sekunden. Je mehr sich der Zug der Lichtgeschwindigkeit nähert, umso größer wird der Zeitunterschied.
Physiker bezeichnen dieses Phänomen als Zeitdilatation. Wir könnten an dieser Stelle noch weitere Formeln ableiten für die Längendilatation oder die relativistische Addition von Geschwindigkeiten. Am Ende kämen wir dann auf Einsteins berühmte Formel E = m × c 2 . Aber das würde den Rahmen dieses Kapitels sprengen. Ich wollte Ihnen vor allem zeigen, wie Mathematik in der Theoretischen Physik im Grundsatz funktioniert.
Im Idealfall genügt eine einzige Annahme, auch Postulat genannt, um eine Theorie abzuleiten, die viele Phänomene erklärt. Das macht die spezielle Relativitätstheorie auch so faszinierend. Die Lichtgeschwindigkeit ist konstant – mehr brauchen wir im Grunde nicht. Alles andere ergibt sich von selbst.
Einen wichtigen Unterschied zwischen Mathematik und Physik möchte ich hier allerdings nicht verschweigen: Ein Mathematiker muss sich für seine Ideen nicht rechtfertigen, solange sie im Theoriegebäude funktionieren. Ein Physiker muss seine
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