Je sueßer das Leben
kennenlernten, war sie erstaunt, dass er nicht gläubig war.
»Wie kann man nicht an Gott glauben?«, fragte sie.
Leon zuckte die Achseln. »Keine Ahnung.« In Wahrheit brauchte er Gott einfach nicht. Er hatte die Antworten, die er suchte, und über alles Weitere dachte er nicht nach. Marta war keine Kirchgängerin, aber sie betrachtete das Leben von einer spirituellen Warte aus, die etwas überaus Überzeugendes an sich hatte. Sie hielt selbst in ihrer Krankheit noch daran fest. Leon hatte jeden Arzt, jeden Spezialisten aufsuchen wollen, jeden, der ihr eine andere Diagnose hätten stellen können, aber Marta lächelte nur, beinahe amüsiert. Sie war schon zu schwach, um mit ihm zu streiten, aber ihre Augen leuchteten noch immer und waren voller Leben.
Irgendwann hatte sie genug von den Ärzten, genug von den Krankenhäusern, genug von den Medikamenten mit ihren fürchterlichen Nebenwirkungen. Sie war bereit zu sterben, aber Leon flehte sie an weiterzuleben.
»Ach, Leon«, sagte sie. »Ich bin so müde. Mein Körper ist so müde. Lass mich doch bitte gehen.« Sie legte ihre Hand auf seine Wange, und er weinte.
Sie brachen die Chemotherapie ab und brachten sie nach Hause, so dass sie in ihrem eigenen Bett liegen und die Sterne sehen konnte. Zwei Wochen später schlief sie ein.
Auf ihren Grabstein schrieb er MARTA YDARA, MEINE GELIEBTE FRAU , 1935–1995. Darunter stand ihr Lieblingszitat, das er sich jedes Mal, wenn er ihr Grab besucht, laut vorliest:
DIE WAHRE ERNTE MEINES
LEBENS IST UNFASSLICH –
EIN WENIG STERNENSTAUB, EIN STÜCKCHEN VOM REGENBOGEN, DAS ICH ERHASCHTE
Henry David Thoreau
Leon senkt sein Fernglas. Die Linsen beschlagen sich. Das passiert. Es gibt Nächte, da versagen die Instrumente, oder das Wetter spielt nicht mit. Der Nachthimmel lehrt dich, Geduld zu haben.
Er dreht sich um, lässt den Blick über die Nachbarhäuser schweifen. Um diese Zeit stecken die Eltern ihre Kinder ins Bett, ersehnen die verdiente Ruhe nach einem langen Tag, selbst wenn noch Geschirr gespült, Spielzeug aufgeräumt und der Frühstückstisch für den nächsten Morgen gedeckt werden muss. Auch deshalb bleibt Leon in Avalon, in diesem Haus. Eigentlich ist das Haus für einen alten Mann wie ihn viel zu groß, aber er hat die Leute aus der Nachbarschaft liebgewonnen, die vertrauten Gesichter, deren Geschichte Teil seiner eigenen geworden ist. Sie erinnern sich noch an Marta, an ihr Lachen, das jedem seine Befangenheit nahm und ihn zum Lächeln brachte. Jeder Einzelne hat irgendeine Geschichte über Marta auf Lager – gelegentlich erinnert er sich dann an ein längst vergessenes Ereignis, und das erfüllt ihn mit einer ähnlichen Freude über das unverhoffte Glück wie ein Kind, das am nächsten Morgen einen Silberdollar unterm Kopfkissen findet, nachdem es einen Zahn verloren hat.
Er stellt sich vor, wie Marta über sie alle wacht, auch über das Haus, das einmal mit Lachen erfüllt war und über dem jetzt die Traurigkeit wie eine dunkle Wolke hängt, und er wünschte, sie könnte ihm sagen, wie er Trost schenken kann, so das überhaupt möglich ist. Es geschehen so viele tragische Ereignisse, die nicht länger als ein Fingerschnippen dauern und doch großes Unglück nach sich ziehen, ganze Leben zerstören, Familien auseinanderreißen.
Was meinst du, Marta? Was kann man da machen?
Er spürt ihren warmen Atem auf seinem Hals, ein Kitzeln, die Andeutung eines Lächelns.
Ach, Leon.
Er spürt, wie sie ihn ausschilt, oder fängt er nur langsam zu spinnen an? Leon macht sich nichts vor. Der Tod hat Menschen, die er geliebt hat, von ihm fortgeholt, wie er eines Tages auch ihn holen wird. Da gibt es nichts zu rechten … oder vielleicht doch?
Er greift nach der Tasse mit heißem Wasser und steckt ein paar Krümel von dem Kuchen in den Mund, den er seit Rosas letztem Besuch schon einige Male gebacken hat. Leon hat jetzt, nachdem er den Winter seines Lebens erreicht hat, Zeit, sich über solche Dinge Gedanken zu machen. Glaubt er nach allem, was passiert ist, an Gott? Das ist die Frage, vielleicht die einzige, auf die es wirklich ankommt. Wie kann jemand so felsenfest davon überzeugt sein, dass es Gott gibt? Gibt es Gott, ja oder nein?
Er legt den Kopf in den Nacken, und in dem Moment dämmert es ihm. Am liebsten wäre er in Lachen ausgebrochen.
Die Antwort ist da – in den Sternen, im Universum, in den Galaxien.
Man muss nur nach oben sehen.
Das Freundschaftsbrot der Amish
HINWEIS: Den Teigansatz nicht in den
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