Jede Nacht mit Charlie
„Donnerwetter.“
Grady zuckte die Achseln. „Nur zum persönlichen Gebrauch.“
Dein ‚persönlicher Gebrauch‘ muss ganz schön groß sein, dachte Charlie. Falls tatsächlich jemand im Sender mit Drogen dealte, war Grady gerade zum Tatverdächtigen Nummer eins avanciert. Nur, was machte er dann mit dem Geld?
Mit drei Angelruten erschien Harry in der Tür. „Alles klar bei euch? Zu schade, dass Allie nicht hier ist. Sie angelt für ihr Leben gern.“
„Ja.“ Charlie verspürte ein seltsames Ziehen in der Herzgegend. „Wirklich schade.“
Nach einer Woche des Zusammenlebens mit Harry war Charlie bereit, auf Händen und Knien zu Allie zurückzukriechen. Er hätte es auch getan, hätte nur seine persönliche Ehre auf dem Spiel gestanden. Aber er musste die Ehre der gesamten Männerwelt verteidigen.
Nacht für Nacht nur durch eine dünne Scheibe getrennt vor Allie zu sitzen war eine Tortur. Heute hatte sie ihr Haar zum Pferdeschwanz zurückgebunden, was ihre zarten Gesichtszüge betonte. Unter ihren Augen lagen dunkle Schatten. Aus unerfindlichen Gründen trug sie kein Make-up. Trotzdem hatte Charlie nie eine Frau stärker begehrt. Wäre es möglich gewesen, hätte er sie gleich auf dem Regiepult genommen und sie zu Gipfeln sinnlicher Lust getrieben, von deren Existenz sie bislang nie zu träumen gewagt hatte .
Die Stille in den Kopfhörern brachte ihn zurück in die Realität. Nach einigen zusammenhanglosen Bemerkungen legte Charlie die nächsten drei Songs auf und betrat den Nebenraum.
„Du siehst müde aus. Alles in Ordnung?“ Obwohl Charlie jeden Funken Selbstbeherrschung mobilisierte, konnte er der Verlockung nicht widerstehen und zeichnete sanft mit den Fingerspitzen die feinen Linien der Anspannung in ihren Augenwinkeln nach. „Du fehlst mir.“
Ihr Gesicht leuchtete auf. „Du mir auch.“
„Wenn ich könnte, würde ich Harrys Puppenstube sofort gegen deine unbequeme Couch eintauschen, aber dann finde ich überhaupt keinen Schlaf mehr. Es macht mich ja schon verrückt, vollkommen angezogen neben dir zu stehen.“
„Wirklich?“ Selbstvergessen schmiegte sie die Wange in seine Hand. „Das ist nett von dir. Danke.“
„Gern geschehen.“ Charlies Blick wanderte von ihren leicht geöffneten Lippen zu ihren Brüsten, die sich unter dem weichen Mohairpullover abzeichneten.
Allies Atemzüge beschleunigten sich. „Charlie?“
Langsam kam sein Mund näher. Begehrlich fuhr er die Kontur ihrer Lippen mit der Zungenspitze nach, streichelte, reizte, verlockte. Benommenheit umfing Allie. Der Kuss wurde intimer, drängender. All ihre Sinne waren von Charlie erfüllt, von der Wärme seines Körpers, von seinem charakteristischen Duft, von der Lust, ihm endlich wieder ganz nah zu sein. Allie schloss die Augen und ließ sich von den Empfindungen davontragen.
Unter Aufbietung aller Kraft riss Charlie sich los. „Ich ertrage das nicht länger!“ Noch einmal küsste er sie hart, dann stolperte er aus dem Regieraum. „Es tut mir leid“, kam seine Stimme kurz darauf über die interne Leitung. „Es war keine Absicht. Geh nach Hause. Der Rest ist sowieso bloß Musik. Ich kann heute nicht mehr mit dir reden. Ich kann mit niemandem mehr reden.“
Nach anderthalb Wochen des Alleinschlafens war Allie zum Äußersten bereit. Es war weniger der Sex, der ihr fehlte, auch wenn die unerträgliche Sehnsucht ihr regelrechte Schmerzen verursachte. Nein, sie vermisste Charlie in jeder Hinsicht. Sein Lachen, seine herrlich unkomplizierte Art, sein Talent, sie immer wieder zu provozieren. Sie konnte sich nicht einmal mehr Frühlingsrollen in der Tiefkühltruhe ansehen, ohne dass sie ein Gefühl grenzenloser Einsamkeit überkam.
Durch die Trennscheibe beobachtete sie ihn mit Sam, der nach überwundener Krise kaum mehr zu bändigen war. Erst vor wenigen Minuten hatte Charlie ihm eine Strafpredigt über das Anknabbern von Stromkabeln halten müssen. Jetzt nutzte der Winzling Charlies mangelnde Aufmerksamkeit und beschnüffelte neugierig die Apparaturen des Mischpults.
Schnell klemmte Charlie sich den zappelnden Hund unters Kinn und legte die nächste CD ein. Ein alter Disneysong begann. Im Takt schaukelte er den Welpen, bis dieser sich auf seiner Brust zusammenrollte und einschlief.
Das zärtliche Bild schnürte Allie die Kehle zu. Bitte nicht, dachte sie. Nicht er. Aber zu spät. Sie hatte sich in Charlie verliebt. Gegen ihren Willen. Gegen jedes bessere Wissen. Dabei wollte sie niemanden lieben, und am
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