Jede Sekunde zählt (German Edition)
die Uhr alles geben. Wir gierten danach, der Welt zu demonstrieren, dass U.S. Postal in einem von Europäern dominierten Sport zum besten Team aufgestiegen war, und wir fuhren ein perfektes Rennen, ein fliegender blauer Keil aus purer Geschwindigkeit.
Wir gewannen die Etappe nach einer Stunde, 18 Minuten und 27 Sekunden, eine halbe Minute vor dem schärfsten Konkurrenten, ein Sieg, der mich im Gesamtklassement vom zwölften auf den zweiten Platz katapultierte. Mindestens ebenso befriedigend war der Umstand, dass auf den ersten acht Plätzen im Gesamtklassement ausschließlich Postal-Fahrer lagen und mein eigener Teamkollege Victor Hugo Peña sich vor mir auf dem zweiten Platz das Gelbe Trikot erobert hatte. Wie wir alle war Victor völlig erschöpft gewesen, als wir uns an diesem Tag der Ziellinie genähert hatten, aber ich hatte ihn mit den Worten »Welche Farbe willst du heute Abend tragen? Welche Farbe?« nach vorne an die Spitze gedrängt.
Nach einer Woche im Sattel kamen wir in die Alpen, und ich fühlte mich immer noch nicht in Form. Das Rennen hat erst begonnen,suchte ich mich immer wieder zu beruhigen, und ich wartete darauf, dass meine Stärke zurückkehrte. Wer mich aber kannte, der sah durchaus, dass ich zu kämpfen hatte – vor allem auf der achten Etappe hinauf nach L’Alpe d’Huez. Nachdem ich in den letzten vier Jahren mit der Ankunft in den Bergen stets die Kontrolle über die Tour an mich gerissen hatte, erwartete auch dieses Mal jeder einen weiteren großen Angriff von mir. Aber L’Alpe d’Huez sollte zum Ort eines weiteren Missgeschicks werden – und mir unmissverständlich zeigen, wo ich im Vergleich zum letzten Jahr stand.
Die Etappe führte unter anderem auf den 2645 Meter hohen Col du Galibier hinauf, ein monströser Anstieg von 30 Kilometern, der mit zu den höchsten in den Alpen zählt. Auf dem Weg hinauf auf den Galibier fühlte ich mich ungewöhnlich schwer in den Beinen, eine Schwere, die mir unerklärlich war. Bis ich nach unten blickte und entdeckte, dass die Bremse am Hinterrad schleifte, befanden wir uns schon wieder auf der Abfahrt.
»Johan«, meldete ich mich per Funk, »ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht.«
»Okay«, hörte ich ihn durch das Rauschen, »zuerst die gute.«
»Nein, ich sag dir zuerst die schlechte: Ich fühle mich wie ein Stück Scheiße. Die gute Nachricht ist, dass ich glaube, den Grund dafür entdeckt zu haben. Ich habe gerade einen Blick nach hinten geworfen und festgestellt, dass die Hinterradbremse die ganze Zeit über geschliffen hat.«
Ich hatte die ersten 120 Kilometer der Etappe mit schleifender Hinterradbremse absolviert – was ungefähr so ist, wie mit Schuhen zu schwimmen. Peinlich genug, dass ich das so spät bemerkt hatte.
Das Problem mit der Bremse hatte ich schnell behoben, nicht aber das mit meinem Körper. Ich war müde, das Thermometer war schon wieder auf 38 Grad geklettert, es ging in den letzten Anstieg nach L’Alpe d’Huez hinein, und nun attackierten auch noch die anderen Fahrer. Joseba Beloki zog vorbei. Ein talentierterjunger Spanier namens Iban Mayo zog vorbei. Der aufgehende kasachische Star Alexander Winokurow zog vorbei. Und sogar mein Freund Tyler Hamilton, der mit einem gebrochenen Schlüsselbein im Sattel saß, zog zeitweilig vorbei.
Kein Gedanke daran, sie zu verfolgen. Ich quälte mich den Berg hoch und schaffte es als Dritter ins Ziel. Damit übernahm ich zwar die Führung im Gesamtklassement, aber es war nicht gerade die dominante Leistung, mit der die Leute gerechnet hatten. Die Zahlen logen nicht: Meine persönliche Zeit hinauf nach L’Alpe d’Huez lag vier Minuten unter der von 2001. Ich hatte das Gelbe Trikot, doch dieser Erfolg hatte einen bittersüßen Beigeschmack. Jeder hatte sehen können, dass ich an diesem Tag nicht der stärkste Fahrer gewesen war. Ich musste der Tatsache ins Auge sehen, dass ich nicht in Form war und die Tour verlieren konnte.
Der nächste Tag führte uns von Bourg d’Oisans nach Gap Berg, und wieder folgte Attacke auf Attacke. Winokurow, Mayo und Beloki saßen mir beständig im Nacken. Die Hitze war so brutal, dass der Asphalt auf den Straßen anfing zu schmelzen und die Attacken schwieriger – und gefährlicher – wurden. Was als Nächstes passierte, war ein klassischer Fall von Glück im Unglück. Wir hatten den letzten großen Anstieg der Etappe erreicht und kamen in eine Kurve, deren Belag in der Hitze aufgeweicht und schlüpfrig geworden war. Beloki jagte
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