Jede Sekunde zählt (German Edition)
Tour beschmutzte ein Vogel Johans Schulter mit Kot; damals hätte ich erkennen müssen, dass uns ein hartes Rennen bevorstand. Wir saßen vor dem Teambus bei einem Meeting zusammen, als der Vogel seine Ladung auf Johans Hemd spritzte. War das ein schlechtes Omen? In einigen Ländern gilt das als ein gutes Vorzeichen, und in der Tat wurde später im Team viel über Glück und Pech spekuliert. Für mich waren das aber nur Ausflüchte. Tatsache ist, dass ich in den vier vorangegangenen Jahren die Tour gewonnen hatte, ohne dass mich ernsthafte Missgeschicke fast aus der Bahn geworfen hätten: keine Stürze, keine Reifenpannen, keine Probleme. Und nun ging, wie es schien, alles auf einmal schief – oder wurde mir nur die Rechnung für mein bisheriges Glück präsentiert?
Es fing im Winter an, als Kik und ich uns trennten. Jeder, der schon einmal etwas Vergleichbares mitgemacht hat, weiß, wie verheerend so etwas für die Psyche ist und wie sehr es alles andere in den Hintergrund drängt. Ich wollte mir einreden, dass ich die Situation im Griff hätte und meine persönlichen Probleme sich nicht auf das Radfahren auswirken würden, aber das stimmte nicht. Ich hatte keinen körperlichen Zusammenbruch, keinen Tag, an dem ich es nicht aus dem Bett schaffte oder nicht aufs Fahrrad stieg. Aber es behinderte mich, nicht beim Training, aber in meinem Denken und Fühlen, im Kopf und im Herzen.
Mit dem Herannahen der Tour stellten sich dann andere, weniger dramatische Probleme ein. Bei einem wichtigen Vorbereitungsrennenfür die Tour, der Dauphiné Libéré, stürzte ich, kurioserweise an einem Freitag, dem 13. Ich erholte mich nur langsam und laborierte an einer Sehnenentzündung im Hüftgelenk. In der Woche, als ich nach Paris abreisen sollte, fing ich mir bei meinen Kindern eine Magengrippe ein und hätte den Flug um ein Haar absagen müssen. Noch am Tag vor dem Rennen lag ich zusammengekrümmt mit Schmerzen auf dem Bett.
Bei der Vorbereitung auf den Prolog sagte ich mir, dass ich vielleicht auf der Straße, sobald das Rennen erst einmal lief, wieder in Form kommen würde. Aber noch mehr als in den Jahren zuvor erwartete dieses Jahr alle Welt von mir einen neuerlichen großen und überzeugenden Sieg. Wenn man so etwas die ganze Zeit zu hören bekommt, bleibt das nicht ohne Folgen. Dann befällt einen das Gefühl, dass man gar nichts zu gewinnen hat, dass man nur noch verlieren kann.
Prompt verlor ich. Mein siebter Platz im Prolog stürzte mich gleich zu Beginn der Tour in eine ausgewachsene Krise. Jetzt wusste jeder, was ich hatte verbergen wollen, und prompt machte im Peloton das Wort die Runde, ich sei nicht mehr derselbe Fahrer wie in den letzten Jahren. Mein siebter Platz ließ an diesem Abend bei allen Fahrern neuerliche Hoffnungen keimen, auch bei Jan Ullrich, der so durchtrainiert und fit wie eh und je nach Paris gekommen war, um für sein neues Team Bianchi an den Start zu gehen.
Und das war erst der Anfang. Gleich auf der ersten Etappe nach Meaux kam es zu einem Massensturz von historischen Ausmaßen. Dicht gedrängt jagte das Peloton auf die Ziellinie zu, als ein kleines Missgeschick eine gewaltige Kettenreaktion nach sich zog. Ein Fahrer rutschte mit dem Fuß aus dem Pedal, nicht mehr, und Sekunden später lagen 176 Fahrer über- und untereinander auf der Straße. Am schlimmsten erwischt hatte es meinen Freund und Nachbarn Tyler Hamilton, der sich das rechte Schlüsselbein brach, es aber trotzdem irgendwie wieder in den Sattel schaffte und weiterfahren konnte. Obwohl ich selbst mehr Glück hatteund mit ein paar Prellungen und Schürfwunden davonkam, war der Massensturz ein Indiz dafür, was uns bevorstand.
Dasselbe galt für die Hitze, die von Anfang an allen zusetzte. Die ganze Tour über war es heiß, drückend heiß. Bei den frühen Sprintetappen stiegen die Temperaturen auf über 38 Grad Celsius. Erschlagen von der Hitze saßen wir mit hängenden Köpfen und Schultern auf den Rädern; als würde eine Zentnerlast auf dir liegen und ohne Unterlass an deiner Kraft zehren. Statt mich mit jedem Tag, der ins Land zog, zu regenerieren, fühlte ich mich immer schwächer. Meine Teamkollegen mussten mich praktisch durch die gesamte erste Woche ziehen. Im Gegensatz zu mir war das Postal-Team in Bestform und fuhr beim Mannschaftszeitfahren über 69 Kilometer von Joinville nach St. Dizier einen überzeugenden Tagessieg heraus. Auf der technisch extrem anspruchsvollen Etappe musste jeder von uns im gemeinsamen Kampf gegen
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