Jede Sekunde zählt (German Edition)
Antworten auf, egal wie sehr man sich dies auch wünschen mag. Hier wie da muss man sich ständig fragen, welche wichtigen Lehren man daraus ziehen kann, welche Lektion daraus lohnt, sie auf das Leben als Ganzes zu übertragen.
Aber eine große und unbestreitbare Lehre habe ich aus dem Krebs und dem Wettkampf gezogen, eine Erkenntnis, von der meiner Meinung nach jeder profitieren kann, sei er nun gesundoder krank, sei er Profi- oder Amateursportler. Diese Lehre lautet: Materieller Wohlstand ist nicht das Einzige, dem hinterherzujagen sich lohnt.
Ob es um Radrennen geht, um Krebs oder um das Leben als solches, der Wohlstand bringt uns nur bis zu einem bekannten Punkt. Seit wann sind Bettlaken aus dem richtigen Stoff, computergesteuerte Kaffeemaschinen oder elektrische Zahnbürsten die einzigen Dinge, die zu besitzen oder für die zu arbeiten sich lohnt? Viel zu häufig steht das äußere dem inneren Wohlergehen im Weg.
Keine mathematische Formel kann erklären, warum manche Radprofis bei der Tour de France mitfahren, andere niemals an den Start gehen und einige zwar mitfahren, aber nichts riskieren. Ich habe viele Leute kennen gelernt, die nicht alles in die Waagschale geworfen haben, und wissen Sie was? Sie haben verloren. Nach fast einem Monat des Leidens kann eine winzige Minute darüber entscheiden, wer gewinnt. Ob es das wert ist? Das hängt davon ab, ob man gewinnen will. Ich bin bereit zu leiden. Das habe ich in mir.
Die Leistungsfähigkeit des Menschen reicht in ein ihm unbekanntes Terrain hinein, ein Terrain, in dem es nur noch um Schmerzen und um Verlust geht. Und was dann? Was bringt dich dazu, durchzuhalten? Ganz einfach: Du erinnerst dich daran, dass du deine Pflicht erfüllst, das Beste aus dir herauszuholen – und dass jeder Erfolg aus der Opferbereitschaft geboren wird.
Die Erfahrung des Leidens ist mit der des Forschens vergleichbar, der Entdeckung von etwas Unerwartetem und Offenbarendem. Wer an die äußersten Grenzen des Schmerzes vordringt, der Angst, der Unsicherheit, wird dafür mit einem Gefühl der Entfaltung belohnt, einem Wachstum seiner Fähigkeiten.
Der Schmerz ist gut, weil er deinem Körper und deiner Seele beibringt zu improvisieren, fast so, als würde dein Unterbewusstsein sagen: »Ich werde mich daran erinnern, an die Schmerzen, und ich werde daraus lernen und daran wachsen, damit derSchmerz das nächste Mal nicht mehr so schlimm ist.« Unser Körper baut sich im wahrsten Sinne des Wortes aus unseren Erfahrungen auf, und ein Körper und ein Geist, die in einem Jahr die Tour de France durchlitten haben, werden im darauf folgenden Jahr besser sein, weil sie eine Erinnerung haben, auf der sie aufbauen können. Wer weiß, vielleicht gilt das ja auch für das Leben insgesamt.
Wer sich niemals umdreht und auf sein bisheriges Leben zurückblickt, wird eines Tages gegen eine Wand prallen. Manche Wände bleiben unsichtbar, bis man in sie hineindonnert. Um die Wand in dir zu überwinden, musst du sie zuerst wahrnehmen. Und der einzige Weg dorthin führt darüber, dir selbst Fragen zu stellen, die schmerzen – nicht anders wie ein Sportler, der körperlich an seine Grenzen vorstoßen will.
Der Umstand, dass es in meinem Leben unbeantwortete Fragen gibt, bekümmert mich nicht. Ich weiß nicht, was als Nächstes kommt, und ich muss das auch gar nicht wissen. Ich freue mich darauf, es zu entdecken. Für mich gibt es keine einfachen und endgültigen Erklärungen. Kann es und wird es nicht geben. Wenn ich meine Kinder so heranwachsen sehe, überkommt mich der Gedanke, dass, während die Struktur ihrer Knochen Form annimmt, auch andere Dinge ihre Spuren in ihnen hinterlassen. Das zeigen mir auch die Narben, die meinen Körper bedecken – dass man nicht durch dieses Leben gehen kann, ohne vom Unerwarteten gezeichnet zu werden.
Ob nun gewollt oder ungewollt, auf unserem Weg durch das Leben hinterlassen wir Spuren. Spuren von Taten, Spuren von Tönen, Spuren von Farben, Spuren von Licht. Wer weiß schon, wie lange sie sichtbar bleiben werden?
Wenn ich im Dead Man’s Hole aus dem Wasser steige, muss ich über Felsen gehen, und was ich sehe, wenn ich mich umdrehe, sind meine feuchten Fußspuren, die in der Sonne verdunsten. Sie verschwinden vor meinen Augen. Wenn ich nach vorne blicke, was sehe ich? Ich sehe, wie weitere Seiten umgeblättert werden,und auf diesen Seiten stehen schöne Dinge, kleine Dinge, Fehlschläge, Feste, Tragödien, dunkle Wolken, Hochzeiten, Abschlussfeiern, Unfälle
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