Jede Sekunde zählt (German Edition)
bringen. Actovegin, das seit den 1960er-Jahren eingesetzt wird, ist in der Tat ein Kälberblutextrakt, und in der Medizin wurde seinerzeit viel darüber diskutiert, wozu es, wenn denn überhaupt, gut sei. Angewendet wurde es hauptsächlich in Europa, und zwar zur Behandlung von Diabetes, aber offensichtlich sollte es auch bei tiefen Schürf- und Schnittwunden, Ausschlägen, Akne, Geschwüren, Verbrennungen, entzündeten Sehnen, offenen Wunden, Augenproblemen, Kreislaufstörungen und Senilität helfen. Nirgendwo fand sich der geringste Hinweis auf eine leistungssteigernde Wirkung, und kein Sportverband der Welt hatte es auf die Liste der verbotenen Substanzen gesetzt. Ich muss es wiederholen: Actovegin war legal. Actovegin war nicht verboten.
Unser Teamarzt hatte Actovegin in seine Medikamentenkiste aufgenommen. Er hatte es stets griffbereit, weil einer unserer Teamassistenten Diabetiker war und man immer mit einer traumatischen Hautverletzung rechnen musste – die Art Verletzung, die man sich zuzieht, wenn man bei Tempo 70 mit dem Fahrrad stürzt.
Dann gab die französische Sportministerin Marie-George Buffet bekannt, dass sämtliche Urinproben des U.S. Postal-Teams von der Tour 2000 sowie der Medizinmüll, den wir während der Tour weggeworfen hatten, den französischen Ermittlungsbehörden zur gerichtsmedizinischen Untersuchung übergeben werden würden.
Genau genommen war das eine gute Nachricht. Weil ich wusste, dass wir nichts zu verbergen hatten, wollte ich, dass alle Proben nochmals untersucht wurden. Wie sonst hätte ich mich rehabilitieren können? »Ich weiß, dass ich clean bin«, sagte ich. »Und deshalb ist das die beste Nachricht seit langem.«
Eine noch bessere Nachricht war die Ankündigung des Internationalen Radsportverbands, eigene Untersuchungen durchzuführen. Ohne Wissen der Athleten hatte der UCI insgeheim 91 während der Tour 2000 genommene Urinproben aufbewahrt, um diese später einem damals noch in der Entwicklung befindlichen Epo-Test zu unterziehen.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte es noch keine Möglichkeit gegeben, den Gebrauch von Epo zweifelsfrei nachzuweisen. Epo ist ein künstliches Hormon, das ursprünglich für die Dialysepatienten entwickelt worden war. Dann jedoch entdeckten siegessüchtige Sportler die leistungssteigernde Wirkung des Mittels insbesondere im Rad-, Schwimm-, Ruder- und Laufsport. Für Radrennsportler ist Epo das wirksamste Dopingmittel, da es den Hämoglobinanteil im Blut erhöht und damit die Sauerstoffversorgung der Muskeln verbessert. Epo war auch beim Dopingskandal der Tour 1998 im Spiel.
Das neue Verfahren schließt aus der Blutviskosität auf die Zahl der roten Blutkörperchen. Dadurch kann festgestellt werden, ob ein Sportler innerhalb der letzten 72 Stunden Epo genommen hat. Mit dem Anteil der roten Blutkörperchen steigen die Dickflüssigkeit des Blutes und der Hämoglobinanteil. Mit dem Test sollte die Blutviskosität eines Athleten mit der eines Normalbürgers verglichen werden; überschritt das Resultat bestimmte Parameter, so lag der Anschein von Epo-Einnahme vor.
Die blutverdickende Nebenwirkung von Epo gilt langfristig als extrem gefährlich und wird von manchen Experten als mögliche Ursache für Schlaganfälle angesehen. Laut New York Times sollen bereits bis zu zwei Dutzend Radrennfahrer an den Nebenwirkungen von Epo gestorben sein. Wer glaubt, dass ich vier Zyklen Chemotherapie ertragen habe, nur um dann mein Leben durch die Einnahme von Epo aufs Spiel zu setzen, muss verrückt sein. Zu versuchen, seine Leistung zu maximieren oder eine pharmakologische Grauzone auszuloten, ist eine Sache, eine ganz andere ist es, mit dem Tod zu kokettieren.
Ich praktiziere eine andere, natürliche Methode, mein Blut zu oxygenieren, und das ist das Leben und Trainieren in Höhenregionen. Ich konzentriere mich auf das Höhentraining. Das Höhentraining macht einen großen Bestandteil meines Trainings aus und ist keine Gefahr für die Gesundheit. Spaß macht es nicht. Es schmerzt in den Lungen, man bekommt Schwindelanfälle, und es ist überaus mühselig. Aber es ist legal und funktioniert.
Je weniger Sauerstoff in der Umgebungsluft vorhanden ist, umso effizienter nutzt der Körper den vorhandenen Sauerstoff, und umso mehr rote Blutzellen produziert er. Ich trainierte jedes Jahr einen Monat in St. Moritz, und wenn ich nicht in den Bergen war, schlief ich viele Nächte in einem Höhenzelt.
Ein Höhenzelt ist, wie Sie sich vorstellen können, nicht gerade das
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