Jede Sekunde zählt (German Edition)
den Farben rot, weiß und blau, auf dem überall die amerikanische Flagge prangte.
»Warum?«, frage ich meinen französischen Teamkameraden Cedric Vasseur. »Warum tun sie das?«
»Hier in Frankreich mögen sie den Sieger nicht«, antwortete er. »Sie mögen den Zweiten.«
Glaubten die Franzosen etwa, dass ich, der Sieger, bis zur Nasenspitze gedopt war und die Typen, die Zweiter oder Dritter wurden, nichts nahmen? Das ergab keinen Sinn. Aber genau so wirkte diese Kampagne in den Medien.
Zu Hause in Amerika hieb der einzige andere Amerikaner, der jemals die Tour gewonnen hatte, Greg LeMond, in dieselbe Kerbe und gab Kommentare ab, die meine Unschuld in Zweifel zogen. Ich könnte, deutete er an, einer der größten »Betrüger« in der Geschichte des Radsports sein. Die Untersuchung sei nur ein Versuch der Franzosen, die Tour zu schützen, die, wie er sagte, weit mehr als nur ein Rennen sei. Vielmehr sei sie ein hoch geschätztes französisches Ritual, das auf »einer tiefen Liebe zum Sport« basiert.
»Die Liebe der Franzosen zum Radsport ist nicht größer als meine«, giftete ich zurück.
Die Feindseligkeit, die mir entgegenschlug, verwirrte und enttäuschte mich. Ich liebte Frankreich, und ich gehöre nicht zu den Menschen, die sagen, sie würden etwas lieben, wenn sie das nicht tun. Mich hatte die Schönheit des Landes in ihren Bann geschlagen, und deshalb hatte 1997 in Frankreich, an der Côte d’Azur, meinen zweiten Wohnsitz erworben. Kik und ich hatten als Jungvermählte dort gelebt und Luke einen guten Teil seines ersten Lebensjahresdort verbracht. Ich hatte mich in Frankreich niedergelassen, und ich hatte das gerne getan. Ich verbrachte weitaus mehr Zeit in Frankreich als in den Vereinigten Staaten. Zur Vorbereitung auf die Tour nahm ich an Radrennen in Frankreich teil, ich ehrte ihre gegenwärtigen und ihre alten Champions, und ich bemühte mich, Französisch zu lernen und in der Öffentlichkeit zu sprechen, auch wenn ich mich dabei ein wenig kurios angehört haben sollte.
Vergeblich, nichts half. Michael Specter von der Zeitschrift New Yorker sollte später schreiben, dass die Franzosen mich aus zwei Gründen nicht mochten: Erstens, es stank ihnen, dass alle meine Dopingtests negativ waren, nachdem mehrere französische Radrennfahrer positiv getestet worden waren, und zweitens, ich wirkte auf dem Rad zu sehr wie ein Roboter. Die Franzosen lieben es, am Berg den Schmerz in den Gesichtern der Fahrer zu sehen, ja, sie haben eine regelrechte Heldendichtung über die Schmerzen der Tour. Bestimmte Geschichten werden immer und immer wieder erzählt, beispielsweise die über den Fahrer, der bei der Tour von 1910 seinen Rahmen zusammenschweißen musste. Solche Dinge vergessen sie nie. Ich lieferte ihnen einfach nicht genügend solcher Geschichten. Abgesehen davon, dass ich nicht gerade extrovertiert bin, sah ich häufig einfach keinen Grund, irgendwelche Kommentare abzugeben, und ich bemühte mich, auf dem Rad möglichst ungerührt zu wirken.
Mein Job war nicht, die französischen Massen zu begeistern, zu dramatisieren, auf dem ersten Kilometer anzugreifen und vielleicht das ganze Rennen zu verlieren, nur damit die Franzosen sich etwas zu erzählen hatten. Ich liebte Frankreich. Was ich nicht liebte, waren die französische Presse, die französischen Fanatiker und, seit kurzem, die französische Bürokratie.
Im Dezember kam neue Bewegung in die Dopinguntersuchung und in die Berichterstattung darüber. Im Zentrum der Presseberichte stand eine mysteriöse Substanz namens Actovegin, von der eine leere Packung in dem von unserem Team weggeworfenenMedikamentenmüll gefunden worden war. Praktisch alle Berichte waren ebenso sensationslüstern wie unzutreffend: Actovegin wurde wahlweise als ein experimentelles norwegisches Medikament und als Kälberblut bezeichnet, und laut einem besonders abstrusen Bericht der Londoner Times war es noch nie zuvor am Menschen getestet worden.
Ich hatte noch nie davon gehört.
Ich hatte es nicht genommen, und ich habe es bis heute nicht genommen. Auf Nachfrage erfuhr ich, dass auch keiner meiner Teamkameraden jemals davon gehört hatte. Das hinderte die Medien nicht daran, die Sache weiter auszuwalzen: Actovegin stimuliere die Bildung von roten Blutkörperchen (tut es nicht), die Substanz sei verboten (war sie nicht), und sie habe eine ähnliche Wirkung wie das verbotene Erythropoietin (hat sie nicht).
Woher ich das weiß? Nun, ich war gezwungen, alles darüber in Erfahrung zu
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