Jede Sekunde zählt (German Edition)
Vereinigten Staaten. Dieser Richter – in unserem Fall eine Richterin namens Sophie-Hélène Château – besitzt überaus umfangreiche Ermittlungs- und Vernehmungskompetenzen.
Frau Château forderte denn auch umgehend alle während der Tour 2000 von mir und den anderen Postal-Fahrern abgegebenen Urinproben an und übertrug die laufenden Ermittlungen dem Staatsanwalt François Franchi. Die Vorwürfe gegen uns lautetenauf den Verdacht auf Verwendung von Dopingmitteln, auf die Anstiftung zur Verwendung von Dopingmitteln sowie auf die Verwendung von giftigen Substanzen.
Zunächst versuchte ich, die ganze Sache nicht persönlich zu nehmen und die Motive hinter der Untersuchung zu verstehen. Ein Athlet, der dopt, betrügt seine Konkurrenten, die Zuschauer und die Medien. Die internationale Radsportgemeinde war gerade erst von einem Dopingskandal erschüttert worden, und die Franzosen waren sehr darauf erpicht, das ramponierte Ansehen der Tour wiederherzustellen. Die Tour ist für sie weitaus mehr als ein Radrennen, sie ist ein nationales Symbol, ein Heiligtum, das sie nicht mit Nadeln und Ampullen beschmutzt sehen wollen. Das Einzige, was mir gegen den Strich ging, war, dass man mich ohne jeden stichhaltigen Beweis des Dopings verdächtigte.
Teil des Problems war, wie ich jetzt verstand, dass die Öffentlichkeit (und die Ermittlungsbehörden) keine Vorstellung haben, wie brutal die Tour ist. Medizinische Betreuung ist ein absolutes Muss. Die Tour de France ist kein normales Sportereignis. Drei Wochen lang und bei zum Teil extremen und häufig wechselnden Wetterbedingungen legen wir Tag für Tag über 160 Kilometer auf dem Rad zurück. Es gibt Fahrzeuge, die bei einer solchen Belastung versagen würden, von menschlichen Körpern ganz zu schweigen. Wir benötigen Hilfe, Hilfe in Form von intravenös injizierten Vitamin-, Mineralstoff- und Phosphatpräparaten.
Infusionen und Injektionsspritzen gehören zum Einmaleins der medizinischen Betreuung. Darüber hinaus zieht sich jeder Tourfahrer Schürfwunden und Prellungen bei Stürzen zu, ganz zu schweigen von Wolf und Ausschlag und Beschwerden wie Verstauchungen, Sehnenentzündungen und dergleichen mehr. Wir verlangen unseren Körpern Übermenschliches ab und können deshalb auf medizinische Hilfe einfach nicht verzichten.
Im Sport wird mit zweierlei Maß gemessen: Wenn beim Football ein Spieler einen Krampf bekommt, sich in der Umkleidekabine eine Spritze geben lässt und wieder aufs Spielfeld zurückkehrt,wird er als Held gefeiert. Einem Radrennfahrer aber unterstellt man sofort, er würde dopen, wenn er mit einer Nadel und einer Ampulle gesehen wird.
Misstrauen ist die Grundhaltung im Radrennsport, und das nicht ohne Grund. Unglücklicherweise kann der Radrennsport auf eine lange Geschichte des Dopings zurückblicken. Zu allen Zeiten und immer wieder haben Sportler gelogen, betrogen und gestohlen. Die Tour von 1998, die ich als Rekonvaleszent verpasst hatte, wurde von einem Dopingskandal überschattet, der in mehreren Verhaftungen und Disqualifikationen gipfelte, nachdem im Begleitwagen eines Teams erhebliche Mengen des Blutdopingmittels Erythropoietin (Epo) gefunden worden waren. Seitdem arbeiteten die Veranstalter der Tour gemeinsam mit dem Internationalen Radsportverband UCI an der Entwicklung neuer Dopingtests und der Wiederherstellung des guten Rufs der Tour.
Am Tag des Tourbeginns kommen die Dopingkontrolleure frühmorgens in jedes Teamhotel und nehmen allen Fahrern Blut ab. Während des Rennens muss man ständig mit unangekündigten Dopingkontrollen rechnen – man weiß nie, wann jemand an die Hoteltür klopft und eine Blutprobe fordert. Dazu kommen die täglichen Urintests, die nach jeder Etappe in einem mobilen Labor vorgenommen werden. (Da sich vor dem Labor manchmal lange Schlangen bilden, habe ich mir schon mehr als einmal auf den letzten Stunden einer Etappe das Pinkeln verkniffen, damit ich etwas abzugeben habe. Sobald ich die Ziellinie überquert habe, springe ich praktisch vom Rad und spurte zum Laboranhänger.)
Dazu kommen außerhalb der Saison die Dopingkontrollen der United States Anti-Doping Agency (USADA). Der Ablauf ist immer mehr oder weniger der gleiche: Wir sitzen in Austin frühmorgens in der Küche, trinken Kaffee und unterhalten uns leise, um die Kinder nicht zu wecken, und plötzlich zerreißt das Klingeln der Türglocke den morgendlichen Frieden. Ich öffne, und auf der Schwelle meiner Wohnung steht ein Vertreter der USADA,der mir in
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