Jede Sekunde zählt (German Edition)
Krebs ihnen nicht antun oder wegnehmen konnte.
Dass er ihnen weder ihre Spiritualität noch ihre Weisheit wegnehmen kann. Noch ihre Liebe.
Kapitel 5
Gegenwind
W enn deine Leistung laufend bewertet wird und du, wie es bei Sportlern der Fall ist, in Abhängigkeit davon bezahlt wirst, läufst du Gefahr, etwas durcheinander zu bringen und Gewinnen mit einem guten und glücklichen Leben gleichzusetzen.
Das Problem ist: Kein Mensch, der seine Brötchen mit dem verdient, was ich tue, kann das einfach so. Ich rase keine Berge mit 100 Sachen und einem Grinsen im Gesicht hinunter. Wer gewinnen will, muss mit aller Energie auf dieses eine Ziel hinarbeiten, und das kann sehr wohl dazu führen, dass man sich am Ende einsam und verlassen fühlt.
Ein Rennen ist eine Übung darin, andere hinter sich zu lassen, und manchmal gehören dazu auch die Menschen, die man liebt. Es ist ein vertracktes Problem, und eines, das ich für mich noch nicht gelöst habe. Einmal zum Beispiel nahm ich meinen Sohn mit auf eine Radtour. Ich packte ihn in einen kleinen Anhänger, befestigte ihn am Rad und fuhr los.
Plötzlich, aus heiterem Himmel heraus, sagte Luke: »Keine Flugzeuge mehr, Daddy.«
»Was?« Überrascht drehte ich mich zu ihm um.
»Daddy, keine Flugzeuge mehr. Bleib bei mir zu Hause.« »Okay«, sagte ich. »Okay.«
Das Leben im Sattel eines Fahrrads zu verbringen bedeutet, dass die Dinge unablässig in Bewegung sind, an einem vorbeiziehen. Geschwindigkeit ist ein Paradoxon: wirklich, wirklich schnell werden erfordert eine endlose Abfolge kleiner gleichförmiger und unablässig wiederholter Bewegungen, und man kann so sehr auf das Resultat fixiert werden, auf die Messungen und Zahlen und Kadenzen, dass man andere Dinge gar nicht mehr wahrnimmt. Die Stärke eines Athleten kann auch eine Schwäche sein: Dieselben Eigenschaften, die dich schnell werden lassen, können zulasten deiner Wahrnehmungsfähigkeit gehen. Man bekommt das Leben nur noch verschwommen mit.
Wie jede Saison zuvor in meinem Leben als Erwachsener nahm ich auch die Radrennsaison 200 1/2002 mit einem vom Krebs diktierten Gefühl der Gehetztheit in Angriff. Wenn ich gerade nicht daran arbeitete, schneller auf dem Rad zu werden, versuchte ich immer noch, vor der Krankheit davonzurennen. Wie es mir ging, hing vor allem von zwei Zahlen ab: meiner Trittfrequenz und dem Wert meines Tumormarkers. Aber vielleicht habe ich ein paar Sachen auch nicht mitbekommen.
In September dieses Jahres überfiel mich die irrationale Angst, mein Krebs sei zurückgekehrt. Die Schlacht gegen den Krebs beginnt und endet, wird gewonnen und verloren auf der Ebene der Zellen, und ich fürchtete, dass die Krankheit sich nur schlafen gelegt hatte, sich versteckte und in zehn oder in zwanzig Jahren, gerade wenn ich mich auf dem Weg in den Sonnenuntergang aufmachte, wieder ausbrechen würde. Ich wollte um keinen Preis den Fehler begehen, die Krankheit und das, was sie mir antun konnte, nicht mehr ernst zu nehmen. Man darf ihr niemals den Rücken zukehren.
Ich fühlte mich körperlich nicht so gut, und das machte mir Sorgen. Ich war müde, und das lag nicht daran, dass ich dem Bier zu sehr zusprach, auch wenn das möglicherweise mit dazu beitragen mochte. Nach dem langen Jahr war ich gestresst und erschöpft, aber was ich empfand, war mehr als nur die normaleMüdigkeit. Nacht für Nacht schlief ich zwölf bis vierzehn Stunden, lange Anfälle von tiefem, bewusstlosem Schlaf. Ein unguter Schlaf, wie ich ihn hatte, als ich krank war.
Je mehr ich darüber nachdachte, umso mehr dachte ich darüber nach. Ich dachte in jeder Stunde darüber nach.
Schließlich hielt ich es nicht mehr aus und rief meinen Freund und Allgemeinarzt Ace Alsup an.
»Ace«, sagte ich, »ich muss zu ein paar Untersuchungen vorbeikommen.«
»Warum?«
»Ich fühle mich einfach nicht gut. Ich bin nervös, und ich will nicht nervös sein.«
»Was willst du deshalb machen?«, fragte Ace.
»Ich möchte, dass du mir Blut abnimmst und es testest«, sagte ich. »Ich will mein Blut testen lassen, und ich will es heute machen. Und du musst mir versprechen, mich anzurufen, sobald du die Ergebnisse hast. Ich bin wirklich sehr nervös.«
»Okay«, sagte er. »Komm vorbei.«
Am Nachmittag schlich ich mich aus dem Haus. Ich steckte die Schlüssel ein und ging aus dem Haus, ohne Kik zu sagen, was ich vorhatte. Sie war jetzt am Ende ihrer Schwangerschaft, und obwohl sie die Zwillinge mit ihrer üblichen Anmut trug, musste es ihr doch zu
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