Jeden Tag ein Happy End
die vorherigen Ehen unterschlagen will?«, fragte Alison Dolan. Tony und ich streckten blitzartig die Köpfe über den Rand unserer Bürowände. Es war wie bei einem Unfall: Man wollte zwar nicht hinsehen, konnte aber auch nicht wegsehen. Alison hatte vor zwei Jahren ihr Studium am Barnard College beendet und wunderte sich, wieso sie immer noch nicht Redaktionsleiterinwar. Wir wunderten uns alle darüber, dass sie immer noch nicht gefeuert worden war.
»Immer wollen alle irgendwas!«, gab Renée aufgebracht zurück. Schon stand sie wieder. »Ich würde zum Beispiel gern in Südfrankreich leben.« Das stimmte so nicht ganz. Renée war überzeugt davon, dass sie nach einer Woche ohne die Zeitung tot umfallen würde. Niemand wusste genau, wie alt sie war, aber sie ging sicher stramm auf die siebzig zu, und Rente stand bis jetzt nicht zur Debatte.
»Wenn wir in einem Artikel über die Wahlen jemanden erzählen lassen, für wen er gestimmt hat, fügen wir doch auch nicht hinzu, wie oft er schon verheiratet war«, antwortete Alison in einem weinerlichen Tonfall.
»Und wenn wir jemanden in einem Artikel über seine Hochzeit zitieren, geben wir auch nicht an, wen er gewählt hat«, verteidigte sich Renée. »Aber wenn es in der Story ums Heiraten geht, ist eine frühere Ehe eben relevant. Es kommt immer auf den Kontext an.« Reneé setzte sich, um gleich wieder aufzustehen. »1977 waren Lana Fogerty und ich die einzigen weiblichen Reporter in der Washington-Redaktion. Dann wurde Lana wegen einer Affäre mit einem Abgeordneten rausgeschmissen. Diese Affäre hatte sie nicht etwa, während sie für die Zeitung arbeitete, sondern davor .« Renée überzeugte sich, dass ihre Betonung von »davor« angekommen war, und fuhr dann mit ihrem Rückblick fort. »Ich fand die ganze Angelegenheit total sexistisch und habe mich sofort an J. D. Rosenberg gewandt. ›J. D.‹, hab ich gesagt, ›selbst wenn meine Reporterinnen mit Elefanten ins Bett gehen, das ist mir egal, solange sie nicht gerade über den Zirkus berichten.‹«
Der Sodomievergleich war zwar verstörend, was mir jedoch so richtig die Knie weich werden ließ, war der Hinweis auf Journalisten, die anscheinend wegen sexuellenFehlverhaltens entlassen wurden. Ich wusste nur zu gut, dass moralische Integrität hier bei der Zeitung mehr als ernst genommen wurde, sie war heilig.
Mein Telefon klingelte, und ich zuckte zusammen. Unbekannte Nummer. Das war an sich natürlich nicht ungewöhnlich, aber was wäre, wenn es jemand vom ›Observer‹ war? Ich ließ denjenigen lieber erst mal auf den Anrufbeantworter sprechen, damit war ich auf der sicheren Seite. Aber was wäre, wenn derjenige es dann beim zuständigen Mitarbeiter für die Einhaltung des Pressekodex versuchte? Ich musste mich endlich zusammenreißen.
Ich ging weiter meine E-Mails durch und fand eine von meiner Großmutter, die im Spamfilter gelandet war.
Ich bin wieder zu Hause. Hatte nur eine kleine Wunde, die genäht wurde. Du musst wohl noch ein bisschen länger auf dein Erbe warten! Alles Liebe, Grandma
Ich rief sie sofort an.
»Gavin!« Meine Großmutter klang sehr erfreut. »Ich steh gerade im ›Winn-Dixie‹, woher wusstest du denn, dass ich hier bin?« Sie besaß zwar ein Handy und war sehr technikaffin, hatte das Prinzip Mobiltelefon aber noch nicht richtig verstanden. »Warst du heute Morgen schon joggen?«
»Ausgerechnet heute Morgen nicht, Grandma.«
»Wieso nicht? Als ich aus dem Krankenhaus raus war, bin ich sofort erst mal joggen gegangen.«
»Warum hast du mich danach nicht angerufen?«, fragte ich. »Ich hab dir so viele Nachrichten auf den Anrufbeantworter gesprochen.«
»Ich wollte dich nicht bei der Arbeit stören.«
»Ich arbeite doch immer«, gab ich zurück. »Aber ich überlege gerade, ein paar Tage Urlaub zu nehmen und dich zu besuchen.«
»Nimm lieber keinen Urlaub«, sagte sie. »Bei Verizon haben gerade neuntausend Leute ihren Job verloren.« Meine Großmutter verfolgte die Arbeitslosenstatistik wie andere Leute Baseballergebnisse.
»Ich werde schon nicht rausgeschmissen«, beruhigte ich sie und erkundigte mich schließlich nach ihrer Gesundheit. Sie meinte, sie habe nicht mehr als ein paar blaue Flecke abbekommen, sei aber sehr müde. Um Bernie mache sie sich jedoch Sorgen. Er liege immer noch auf der Intensivstation.
»Heute Nacht haben wir seit unserer Hochzeit das erste Mal nicht zusammen in einem Bett geschlafen«, sagte sie. Ihre Stimme zitterte. »Besuch mich jetzt
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