Jeden Tag ein Happy End
nicht?«
»Bernie liegt immer noch im Koma«, sagte meine Mutter. »Der Arzt hat gesagt, dass er sich keine großen Hoffnungen macht.«
»Das hat er überhaupt nicht gesagt«, widersprach ihr mein Vater.
»Er hat gesagt, dass Bernie vielleicht nie wieder aufwacht.«
»Aber er hat kein Wort über irgendwelche Hoffnungen gesagt!«
»Weil er sich eben keine macht.«
Ich sah mich in dem dunklen Raum um. Ein glänzend lackierter Hummer starrte mich an. Melinda kam zu spät. Bernie lag im Sterben. Meine Eltern waren total verrückt. Und ich war allein. Im übertragenen Sinne natürlich nur. Um mich herum lümmelten sich etwa zwanzig Leute aufden Sofas oder tanzten in den dunklen Ecken, während Mary J. Blige darauf bestand, alles wäre ›Just Fine‹.
Mein Handy piepste. Es war Melinda.
»Bleibt mal kurz dran«, unterbrach ich meine Eltern mitten in ihrem Redefluss. Ich drückte den Knopf und erwartete schlechte Nachrichten. Ich hoffte, dass sie nur spät dran war wegen der U-Bahn oder vielleicht auch wegen somalischer Piraten.
»Wo bist du?«, fragte sie.
»Wo bist du ?«, fragte ich zurück.
»Ich sitze ganz allein an einem wunderschönen Tisch für zwei«, sagte sie. Plötzlich fiel mir auf, dass ich Mary J. Blige in Stereo in der Leitung hörte.
»Bin sofort da«, antwortete ich und rannte die Stufen hinauf. Ich hätte schwören können, dass wir in der Bar verabredet waren, aber das war jetzt auch egal. Hauptsache, ich würde sie gleich wiedersehen.
Der Speisesaal befand sich auf dem Oberdeck. Unter einem Zelt standen Tische mit rot-weiß karierten Tischdecken. Dazwischen Heizpilze, die mit Lichterketten dekoriert waren.
»Ich bin auf dem Deck«, sagte ich in mein Handy.
»Ich sitze im Heck, auf der Steuerbordseite«, sagte sie.
»Ist das ein Test?« Ich versuchte mich daran zu erinnern, ob steuerbord links oder rechts bedeutete.
»Ja«, lachte sie. »Wenn du nicht bestehst, werden wir uns wohl nie wiedersehen.« Der Flirtton in ihrer Stimme gefiel mir.
»Bekomme ich nicht mal einen Tipp?« Ich lief suchend zwischen den Tischen umher.
»Ein romantischer Held braucht ja wohl keine Navigationshilfe.«
»Einer, der in der nautischen Welt verloren ist, schon«,antwortete ich, völlig aus dem Häuschen darüber, dass sie mich offensichtlich für einen romantischen Helden hielt.
»Fürchtet euch nicht, edler Ritter, und kommt nicht vom rechten Wege ab, ich will euch auch leuchten.«
»Wie bitte?«
»Ich winke dir gerade«, sagte sie, und ich sah tatsächlich einen erhobenen Arm. In dem schummrigen Licht konnte ich sie jedoch immer noch nicht erkennen. »Eilt euch!«, sagte sie und legte auf. Darauf kannst du wetten, dachte ich, steckte mein Handy ein und lief auf sie zu.
Dann stand sie vor mir. Einsachtzig groß. Ich umarmte sie zögerlich, und sie drückte mich fest an sich. Wir setzten uns. Sie strich sich eine ergraute Strähne hinters Ohr.
»Ich muss zugeben, ich wusste nicht sofort, wer du bist, als deine E-Mail kam«, sagte sie. »Aber jetzt erinnere ich mich natürlich. Wir haben uns letzten Sommer auf einer Party in Southampton kennengelernt.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. »Ich habe Sie noch nie in meinem Leben gesehen«, wäre wohl etwas unangebracht gewesen. Aber die Wahrheit. Oder vielleicht lieber: »Wer sind Sie, und was haben Sie mit Melinda gemacht?« Obwohl sie mir, wie Captain Al, bestimmt unter die Nase gerieben hätte, in der Tat »eine« Melinda zu sein. Nur leider nicht die, die ich suchte.
Warum hatte sie auf die E-Mail geantwortet, wenn sie keine Ahnung hatte, wer ich war? Warum hatte sie nicht gemerkt, dass die E-Mail nicht für sie gedacht war? Andererseits war ich auch froh, dass sie mich für einen Verehrer hielt und nicht für einen erfolglosen Stalker.
Wenn ich sie so über den Tisch hinweg ansah, musste ich zugeben, dass sie attraktiv war. Ich schätzte sie auf Mitte fünfzig, sie hatte schöne Rundungen, volle Lippen und Rehaugen.
»Du hast ein tolles Restaurant ausgesucht«, sagte sie und wippte im Takt der Musik mit dem Kopf. »Unter diesen ganzen jungen Leuten fühle ich mich gleich zehn Jahre jünger.«
Ich fühlte mich schlagartig zehn Jahre älter, denn mir wurde schmerzlich bewusst, dass ich wahrscheinlich nach ihr der Zweitälteste auf diesem Schiff war.
»Meinem Exmann würde dieses Restaurant überhaupt nicht gefallen«, sagte sie und begann, sich über die letzten fünfundzwanzig Jahre mit ihrem grässlichen Exmann auszulassen. »Als ich
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