Jeden Tag ein Happy End
fröhlich. Sie tat so, als ob es Bernie schon viel besser ging, und ich, als würde ich ihr glauben. Heute war kein guter Tag, um von unserer sonstigen Routine abzuweichen. Heute war überhaupt kein guter Tag für irgendetwas. Hauptsache, ich überstand diesen Tag ohne zusammenzubrechen, mehr wollte ich gar nicht. Ich hatte mich aus dem Bett quälen müssen. Am liebsten hätte ich mich krankgemeldet, das stand jedoch nicht zur Debatte. Ich konnte es im Moment wirklich nicht gebrauchen, dass Melinda oder Alexander bei der Zeitung anrief, bevor ich die Chancehatte, alles zu erklären. Nicht, dass ich gewusst hätte, wie ich das anstellen sollte.
»Tut mir leid, Gavin«, sagte meine Großmutter. »Ich bin nur ein wenig müde. Wie läuft’s bei der Arbeit? Du hattest was von einem neuen Block erzählt. Wird bei euch gebaut?«
Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, was sie meinte.
»Es heißt Blog, und das ist wie eine Zeitung, nur im Internet«, erklärte ich. Ich hätte ihr so gern erzählt, was gestern alles passiert war, und hätte gern von ihr gehört, dass ich nur ein Stück von ihrem Apfelstrudel bräuchte, und dann wäre alles wieder gut. Sie hatte jedoch schon seit zwanzig Jahren keinen Apfelstrudel mehr gebacken, und nichts wurde wieder gut. Ich hatte Melinda verloren, und meinen Job würde ich wahrscheinlich auch bald los sein. »Mit dem Blog geht’s voran«, log ich.
»Ziehst du dich auch immer warm genug an?«, fragte sie. Endlich waren wir wieder bei unseren regulären Gesprächsthemen angekommen.
»Es sind zwanzig Grad.«
»Das ist doch noch ganz schön kühl.« Für jemanden aus Florida war es das wahrscheinlich wirklich. »Ich schicke dir mal lieber einen Pullover.«
Ich hatte nicht Geburtstag, und meine Großmutter hatte auch noch nie gern gestrickt. »Brauchst du nicht, Grandma. Ich habe genug Pullover.«
»Ich habe Bernie einen Tag vor dem Unfall einen Kaschmirpullover mit V-Ausschnitt gekauft«, sagte sie. Ihre Stimme klang gepresst. »Den wird er nicht mehr tragen.«
Ich wusste seit Februar, dass Bernie nicht wieder gesund werden würde. Aber aus dem Mund meiner Großmutter zu hören, dass sie die Hoffnung aufgegeben hatte, nahmmich trotzdem mit. Wie in der Geisterbahn, wenn sich unter einem plötzlich eine Falltür öffnet.
Zehn Minuten lang stand ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite vor der Zeitung und starrte das Gebäude an, das in seiner immensen Größe bedrohlich über mir aufragte. Ich traute mich nicht hinein. Es wäre schon demütigend genug gewesen, meinen Fehler vor Renée zugeben zu müssen, aber der Gedanke an Tucker war schlichtweg unerträglich. Um die Ecke war doch das Rekrutierungsbüro des Militärs. Vielleicht sollte ich mich freiwillig melden?
Ich marschierte weiter. Ich drückte den Fahrstuhlknopf und war zum ersten Mal froh, dass ich noch ein paar Minuten vor mir hatte, bevor ich in meinem Büro war. Der Fahrstuhl kam diesmal sofort und öffnete mir höhnisch grüßend seine Türen. Ich hätte schwören können, dass das Getriebe gehässig kicherte.
Verfolgungswahn half mir jetzt jedoch auch nicht weiter. Ich hatte schon genug reale Probleme, da konnte ich nicht auch noch unbelebte Objekte als Feinde gebrauchen. Dennoch – während ich den Flur im fünften Stock entlangging, kam es mir vor, als würden sich die Wände links und rechts auf mich zu bewegen.
Mein Telefon blinkte. Jemand hatte mir eine Nachricht hinterlassen. Das war an sich natürlich nichts Ungewöhnliches. Jetzt gerade steckte diese Information jedoch voller möglicher Gefahren. Ich setzte mich, und in dieser Sekunde klingelte das Telefon. Es lebt, dachte ich. Das ganze Gebäude lebt. Und es weiß alles.
Ich bezwang die Panik, die in mir aufstieg. Die Nummer am Display kannte ich, es war Roxannes. Es gibt genau zwei Gründe, warum sich Bräute noch einmal melden, nachdem der Artikel über ihre Hochzeit erschienen ist: Entweder wollen sie sich bedanken oder sich beschweren.Und das Dankeschön kam meistens per E-Mail. Ich ließ den Anrufbeantworter drangehen. Dann schloss ich die Augen, holte tief Luft und atmete langsam wieder aus.
Als ich die Augen öffnete, stand Tucker vor mir.
»Kommst du mal kurz mit zu mir ins Büro?« Er sagte das so nebenbei – ein unabhängiger Beobachter hätte es für eine zwanglose Aufforderung gehalten.
»Klar«, antwortete ich und gab mir Mühe, dabei gleichermaßen lässig zu klingen. Als würde sich mein Körper ganz normal benehmen, als würde
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