Jeden Tag, Jede Stunde
dich zu lange alleingelassen, es tut mir leid, ich mache es wieder gut, ich verspreche es dir, alles wird gut …« So könnte er auch mit sich selbst reden, um seinetwillen.
»Ich will, dass Papa nach Hause kommt.« Anas Stimme ist klar wie das Meer im Winter.
So einfach ist das.
Die Frage ist: wofür? Zu jung wofür?!
Es ist Nacht. Luka schläft nicht. Neben ihm auf dem Bett liegt seine Schwester. Sie atmet ruhig und regelmäßig. Sie lächelt ein wenig im Schlaf. Luka wundert sich nicht. Ihre Mutter ist zwar heute gestorben, aber sie lächelt trotzdem, denn ihr Vater kommt nach Hause. Sie ist doch noch ein Mädchen. Dreizehn Jahre. Wie groß ist der Unterschied zu fünfzehn Jahren? Ist man mit fünfzehn noch ein Kind? Manchmal kommt es ihm vor, als wäre er mit drei Jahren das letzte Mal Kind gewesen. Aber nicht alle sind so wie er. Also kann fünfzehn alles bedeuten.
Zu jung für das Leben. Für den Rest des Lebens, könnte man sagen. Wenn mit sechs schon alles klar und entschieden ist, was bleibt dann für die Zukunft?! In Doras Kopf arbeitet es fieberhaft.
Luka steht auf und geht zum Schrank, öffnet ihn leise. Er will Ana nicht wecken. Ganz unten, in der tiefsten und vergessensten Ecke, liegt eine Holzschachtel, die er vor vielen Jahren einmal mit Meeresmotiven bemalt und mit verschiedensten Muscheln beklebt hat. Er legt die Hand darauf. Es passiert nichts. Seine Hand wird nicht gebissen und nicht verbrannt. Er holt die Schachtel trotzdem vorsichtig heraus. Er weiß nicht mehr genau, was sich alles darin befindet.
Der Mond ist voll und scheint hell ins Zimmer hinein. Er braucht kein anderes Licht. Er legt die Schachtel auf den Teppich vor seine gekreuzten Beine. Sie ist schwerer, als er sich vorgestellt hat. Er sieht sie an und legt beide Hände darauf. Die Finger bewegen sich wie von selbst, und so sitzt er da, mitten in der Nacht, und streichelt eine kleine Holztruhe. Er ist achtzehn Jahre alt, fühlt sich aber heute Nacht wie ein Achtjähriger. Denn als er neun Jahre alt war, da …
Dora kommt es vor, als müsste sie ein Puzzle zusammenlegen. Als hätte sie alle nötigen Teile, aber keine Vorlage. Kein Bild, an dem sie sich orientieren könnte. Es kommt ihr aussichtslos vor. Und vielleicht ist es auch lächerlich, alles Einbildung und Kinderkram. Vielleicht wird sie einfach nur erwachsen. »Das ist das Alter, schlicht und ergreifend«, würde ihre Mutter sagen. Ja, es könnte sein. Wenn da nur nicht dieses Gefühl wäre. Und irgendwo in dieser Wohnung auch eine Kiste mit ihren Sachen aus einem anderen Leben. Aus ihrem Leben womöglich. Das Telefon klingelt. Verdammt! Dora steht auf und verlässt das Zimmer. Die Wohnung. Sie schließt die Tür hinter sich, als wäre es eine Verkündung.
Am Morgen nach der Beisetzung besucht Luka seine Kunstlehrerin zu Hause. Frau Mesmer wohnt in einem alten Steinhaus am Rande der Stadt, wo die Küstenstraße weiter nach Dubrovnik führt. Sie lebt allein. Ihr Mann ist vor zehn Jahren gestorben. Er war Maler. Überall im Haus hängen seine Bilder. Keine Fotos, jedenfalls keine im Flur oder im Wohnzimmer. Luka und Frau Mesmer setzen sich auf die Terrasse, Frau Mesmer serviert ihnen Eistee, und Luka kommt sich sehr erwachsen vor.
Sie trinken und schweigen. Es ist ein angenehmes Schweigen. Sie schauen aufs Meer hinaus. Man hat einen wohltuenden Blick von dieser Terrasse, man kann die Halbinseln Sv. Petar und Osejava sehen. Es ist 9:45 Uhr, die Fähre nach Sumartin verlässt den Hafen. Luka lässt sich Zeit. Er spürt, wie sich Entspannung in ihm ausbreitet. Er macht es sich ganz bequem im weich gepolsterten Korbsessel.
»Ich habe deinen Vater gesehen. Er ist wieder hier, das ist gut.« Frau Mesmer sieht ihn nicht an. Sie ist mit ihrem Glas beschäftigt.
»Ja, das ist gut.«
»Er wird das kleine Hotel in Donja luka übernehmen, habe ich gehört.«
»Ja, angeblich.«
»Das ist gut.«
»Ja, das ist gut.«
Und wieder schweigen sie.
»Sie haben ein schönes Haus.«
»Ja, nicht wahr?«
Sie trinken und schweigen. Luka hat ein Gefühl, als wäre die Zeit stehen geblieben. Als gäbe es gar keine Zeit. Er schließt die Augen und denkt an nichts. Er ist ein echter Meister, wenn es darum geht, an nichts zu denken.
»Also hast du deine Meinung geändert.« Sie senkt den Kopf ein wenig und sieht ihn über den Brillenrand an. Er sagt noch nichts.
»Das ist gut, ich freue mich sehr.« Sie trinkt einen kleinen Schluck Eistee. »Du bist das größte
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