Jeden Tag, Jede Stunde
Talent, das ich je unterrichten durfte oder persönlich gekannt habe. Ich freue mich sehr.«
Sie stellt das Glas ab. Es fängt die Sonnenstrahlen auf und glitzert farbenfroh.
»Es ist das Einzige, was ich tun will. Mein Leben lang. Ich will malen. Nichts als malen. Dieses Glas da, das das Licht gefangen hält. Das Meer zu jeder Zeit, bei jedem Wetter.«
»Gut.«
»Das Meer und das Licht. Ich will mein Inneres malen.«
Sie ist einige Sekunden ganz still. Sie beobachtet ihn eingehend. Nicht als sähe sie ihn zum ersten Mal. Nein. So als hätte sie es schon immer gewusst.
»Das kann wehtun.«
Das ist alles, was sie sagt.
Als sie dann mehr als genug geschwiegen haben, steht sie auf, holt einen zugeklebten Briefumschlag aus der obersten Schublade der Kommode im Wohnzimmer und übergibt ihn ihm. Luka hält ihn fest, den dünnen Brief, sieht dabei seine Lehrerin an. Verlegen und aufgeregt zugleich.
»Dieser Brief hat schon zu lange auf dich gewartet. Er wird dir den Weg ein wenig erleichtern. Aber nur den äußeren.«
Sie stehen an der Tür.
»Wir sehen uns dann morgen in der Schule«, sagt sie und legt ihre Hand auf seine Wange. Liebevoll. Tröstend. Voller Vertrauen.
Und Luka denkt an seine Mutter. Die tot ist. Für immer und ewig. In der warmen Erde verschwunden.
Bevor die erste Träne sein Auge erreicht, dreht er sich geschwind um und eilt auf die Straße. Er rennt fast. Wird aber nicht überfahren. Nein, das ist nicht sein Schicksal. Und es gibt noch zu wenig Autos in Makarska 1977.
7
Geschafft. Sie gehört dazu. Zu den Auserwählten. Es ist vollbracht. Dora muss schmunzeln. Eigentlich ist es selbstverständlich, auch wenn sie weiß, dass es alles andere als das ist. Sie klettert die vielen Treppen hinauf und folgt den anderen, die sich auch in ihr Paradies begeben. Sie weiß, es wird alles nach ihrem Plan gehen, der genau genommen eher eine Zuversicht oder eine Abwesenheit von Alternativen ist. Es ist der einzige Weg, alle ihre Leben, die in ihr toben, zum Ausdruck zu bringen, zu befreien. Denn auch wenn Sartre im April gestorben ist, sind seine Stücke geblieben, und sie wird sie alle spielen können. Irgendwann.
Und während sie ihrer Zukunft folgt, wird sie von einem Bild überrascht, einem Mosaik aus winzigen Fragmenten eines anderen Lebens, das ziemlich gut versteckt in ihr wohnt und ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit und des Glücks mit sich bringt, das sie nicht näher betrachten will, aus Angst vielleicht, es womöglich zu vermissen, wenn es vorbei ist. Die Fragmente sind scharf wie trockene Muschelränder, weich wie das schmelzende Eis im Sommer, warm wie das frisch gebackene Brot, klar wie Wolkenkonturen im Frühjahr, nach einer guten Portion Nordwind. Und alle diese Teilchen sind im glitzernden Blau des Meeres eingebettet. Es sind keine Erinnerungen. Es ist das Leben, das sie vergessen hat und das vor ihr steht. Alles ist auf eine unerklärliche Weise miteinander verbunden. Verschieden und widersprüchlich und doch zueinander gehörend.
Denn Dora ist dabei, ihre erste Schauspielstunde am Conservatoire national supérieur d’art dramatique de Paris zu besuchen. Alles wird sich fügen. Ihr Glaube ist voller Leidenschaft.
»Ich liebe dich.« Klaras Worte streicheln über sein Ohr. Luka legt den Pinsel ab und dreht sich zu ihr um. Sie legt die Arme nicht um ihn. Sie hält den vorgeschriebenen Abstand zu seinem Körper ein. So ist die Regel: Sie soll ihn bei der Arbeit nicht berühren. Sie findet aber immer neue Wege, ihn doch nicht in Ruhe zu lassen, sich bemerkbar zu machen. Er mag es, und er mag es nicht, denn er hat sie sehr gern, aber er will nicht abgelenkt werden. Auch wenn er unter keinem Zeitdruck steht. Er befindet sich nie in Zeitnot. Seine Arbeiten sind fertig, noch bevor die Aufgaben von den Dozenten erteilt sind. Er lebt, um zu malen. Die Pinselstriche sind seine Atemzüge. Ob Klara das wohl versteht?
Klara ist wunderbar. Sie kommt auch aus Makarska, lebt aber schon so lange in Zagreb, dass Luka sie vorher nicht gekannt hat. Außerdem ist sie drei Jahre älter als er. Klara unterrichtet Tanzen. Sie haben sich vor zwei Jahren kennengelernt, im Krankenhaus, wo Luka einen Freund besucht hat, der nach einem Autounfall mit zwei gebrochenen Armen dort gelegen hat. Im Nachbarzimmer hat Klara unter starken Schmerztabletten vor sich hin geschlummert. Schlimmer Beinbruch. Da sie so eine Art kleine Berühmtheit war und das nun leider das Ende ihrer vielversprechenden
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