Jeden Tag, Jede Stunde
Tanzkarriere, war sie das Gesprächsthema Nummer eins unter Schwestern und Kranken. So entschied Luka sich, sie einmal zu besuchen, brachte ihr sogar Blumen, wollte sie aufmuntern und trösten. Und stellte fest, dass sie vieles gemeinsam hatten. Den Geburtsort zum Beispiel. So fing alles an. Und Klara hat sich nicht unterkriegen lassen. Nachdem sie sich ausgeweint hatte, hat sie ihre weit auseinander stehenden Augen getrocknet und gelächelt. Es gebe Schlimmeres, hat sie gemeint. Was natürlich auch stimmt. Und dennoch. Luka hat diese Einstellung immer bewundert. Klara sagt, es sei Liebe auf den ersten Blick gewesen. Sie habe ihn gesehen, in ihrem betäubten Halbschlaf, habe zuerst gedacht, sie träume, und als er sich als Realität entlarvte, habe sie es gewusst. Er sei es. »Es war klar wie mein Wunsch, zu tanzen«, sagt sie gerne immer wieder.
Luka dagegen kann von sich nicht sagen, dass es Liebe auf den ersten Blick gewesen ist. Für ihn war der erste Blick schon längst passiert. Jawohl. Es ist schon so lange her, dass er so gut wie nie darüber nachdenkt. Über den ersten Blick. Das ist aus und vorbei. Aber trotzdem war er der erste. Und es kann, das weiß man, nur einen ersten Blick geben. Das hat er Klara nicht erzählt. Natürlich nicht. Luka weiß nicht allzu viel über Frauen, es fehlt ihm an der nötigen Erfahrung. Obwohl er schon einundzwanzig Jahre alt ist. Oder erst, schwer zu sagen. Aber er weiß, dass keine Frau das gerne hört. Vor allem wenn sie verliebt ist. Porträtiert hat er sie aber dennoch. Das Bild hängt in der Tanzschule, in der Klara unterrichtet. Sie wohnen nicht zusammen. Noch nicht, sagt Klara; Luka sagt nichts dazu. Er kann sich das nicht so richtig vorstellen. Er mag Klara, und er will nichts ändern. Alles passt so, wie es ist. Manchmal denkt er, er kann nicht viel Nähe ertragen. Aber dann kommt Ana zu Besuch, und Luka kann nicht genug von ihr bekommen. Er hat schon gemerkt, dass Klara ihn dann besonders eingehend beobachtet, und er kann sich vorstellen, dass sie falsche Schlüsse daraus zieht, aber es kümmert ihn nicht. Wahrscheinlich weil Ana und Klara doch gut mit einander auskommen.
Ana mag Klara. Klara kümmert sich immer sehr liebevoll um sie, bemuttert sie sogar, und Ana hat nichts dagegen. Dann denkt Luka, dass seine kleine Schwester immer noch ihre Mutter vermisst. Obwohl sie den Papa zu Hause bei sich hat, der fast wieder der Alte ist. Wie zwei Freunde leben sie im kleinen Haus am Meer, neben dem Hotel, das Zoran jetzt seit drei Jahren leitet. Ana will Lehrerin werden und in Makarska bleiben. Sie ist hundertprozentig verliebt, Toni heißt er und geht mit ihr in dieselbe Klasse. Er spielt Wasserball wie Luka seinerzeit, bevor er nach Zagreb gezogen ist, um sich voll und ganz dem Malen zu widmen. Groß und stark und gut aussehend ist Toni und in Ana verliebt. Manchmal denkt Luka, dass ihm etwas verloren gegangen ist, dass er etwas verpasst hat, als hätte jemand ihm etwas gestohlen. Die jugendliche Leichtigkeit. Denn er sieht seine Schwester und muss feststellen: So einfach kann das Leben sein.
Aber eigentlich ist sein Leben auch nicht viel komplizierter. Er tut genau das, was er will, hat eine Freundin, die er lieb hat und die ihn liebt, hat schon einige seiner Bilder verkauft – es ist nicht genug, um davon zu leben, aber es wird allmählich. Keine offensichtlichen Hindernisse, keine Steine im Weg.
Und trotzdem. Es ist etwas da, was nicht da sein sollte, auch wenn es zweifellos dahin gehört.
»Ich liebe dich.«
Dora glaubt André, dass er sie liebt, sie hat ihn auch lieb. Auch wenn sie ihm noch nie gesagt hat, dass sie ihn liebt. Das fällt ihr nicht leicht. Immer wenn die Worte kommen wollen, genau bevor die mit den Worten beladene Luft herauskommen soll, bleiben sie wie angewurzelt stehen, irgendwo zwischen dem Rachen und der Zunge, wie verschreckt. Als hätten sie Angst vor dem Licht.
»Ich liebe dich.«
Dora umarmt ihn. Mangels entsprechender Worte.
André ist wunderbar. Sie kennen sich zwar erst seit einigen Monaten, sechs sind es, um genau zu sein, aber schon fühlt Dora sich wohl bei ihm, ein wenig wie zu Hause. André ist vier Jahre älter, fast fertig mit seinem Studium – er studiert Bankwirtschaft – und arbeitet bereits in der Bank seines Vaters. Weil er so klug und fleißig ist. Und weil er alles über Geld weiß, im Unterschied zu Dora. André lacht immer liebevoll über ihre Naivität in Gelddingen. »Wenn du einmal berühmt und reich
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