Jeden Tag, Jede Stunde
sie auch nicht. Das ist eine unerwartete Klarheit, mit der sich Luka im Augenblick nicht auseinandersetzen kann, denn sie grenzt an Grausamkeit.
Deswegen gibt er auch Toni die Hand und einen Klaps auf die starke Wasserballspielerschulter. Ein paar Erinnerungen kommen hoch. Der Geruch von Chlor. Dann steht er seinem Vater gegenüber und hat das Gefühl, gleich losheulen zu müssen. Jedes Mal, wenn er diesen Mann sieht, überrollt ihn die Liebe zu ihm, als wäre sie etwas Neues, Unerwartetes, Einmaliges sogar. Vielleicht liegt es am leichten, fortwährenden Geruch nach Meer und Sonne und frischer Luft und Boot und Fisch und warmer Brise, den der Vater mit sich herumträgt. Und augenblicklich entstehen Bilder in Lukas Kopf, die nicht wegzudenken sind, aber auch nicht malbar. Eine Sehnsucht, die den hungrigen Magen ausfüllt, aber nicht sättigen kann. Sie umarmen sich, Vater und Sohn. Sie sagen kein Wort. Ihre Blicke berühren sich, und das genügt. So ist es immer gewesen.
»Lasst uns essen gehen, Klara hat einen Tisch in dem besten Restaurant von ganz Zagreb bestellt.«
»Ich verstehe schon, das heißt, dein Alter soll zahlen.« Zoran lacht zufrieden. Nichts bereitet ihm mehr Vergnügen, als Geld für seine Kinder auszugeben.
»Klar, wozu hat man denn sonst einen Hoteldirektor zum Vater?« Klara nickt, und Luka hat kein gutes Gefühl.
Aber alle lachen. Ana umarmt Toni und gibt ihm einen flüchtigen Kuss: Mit sechzehn fällt es ihr noch nicht leicht, vor ihrem Vater und Bruder einem anderen Mann gegenüber Gefühle zu zeigen. Luka legt den Arm auf Zorans Schulter. An der Tür angekommen, dreht er sich ein wenig abwesend um.
»Klara, kommst du?«
»Dora, das ist Marc. Marc, das ist meine Tochter, Dora.«
Marc ist jung, gut aussehend, groß, dunkelhaarig, schwarzäugig. Jung. Mit einem großen, weichen Mund lächelt er Dora an. Jung. Einen Arm voller Muskeln legt er um Helenas Schultern. Sehr jung.
Das Schweigen dauert zu lange. Dora ist sich dessen bewusst. Aber sie kann ihre Lippen nicht bewegen. Sie kann nicht aufhören zu starren. Sie kann es nicht glauben. Und dann doch. Wer würde sich nicht in diesen Mann verlieben?! So wie sie dastehen, sind sie ein schönes Paar. Trotz des Altersunterschieds. Und sie sind glücklich. Strahlend. Von sich selbst begeistert. Wie verzaubert. Auch wenn keiner »Ich liebe dich« sagt. Jedenfalls nicht laut und nicht vor ihr.
»Wir wollen dich zum Essen einladen, wir wollen mit dir feiern.«
Dora kann ihre Mutter nicht erkennen. Sie betrachtet sie mit einer Mischung aus Verlegenheit, Misstrauen, Begeisterung und Stolz. Und denkt an ihren Vater, der zwar immer noch gut aussehend ist, aber mindestens zwanzig Jahre älter als Marc. Sie hat das Gefühl, sie sollte mit ihrem Vater solidarisch sein, die Einladung ablehnen, diesem Mann die kalte Schulter zeigen, ihre Mutter verurteilen. Müssen, Sollen, Wollen und Dürfen kämpfen in ihrem Kopf wie in einem Zeichentrickfilm: Bügeleisen fliegen ins Gesicht, mit Pfannen wird auf den Kopf geschlagen, Besen werden verschluckt.
»Was gibt es denn zu feiern?« Doras Stimme zittert ein wenig, als wäre sie erschöpft von den ganzen Aktivitäten à la Tom und Jerry.
Helena und Marc sehen sich verschwörerisch, aber doch völlig offen an. Die Luft um sie herum scheint zu leuchten. Dora ist achtzehn Jahre alt, und das ist alles entschieden zu viel für sie. Sie denkt an André. Ob sie auch so strahlen, wenn sie zusammen sind? Sie atmet tief ein. Sie stellt sich vor, sie wäre in einer besonders heiklen Schauspielübung.
»Uns.«
So einfach kann das Leben sein. Einfacher als jedes Schauspiel. Als alles, was sie je auf der Bühne gesehen hat. Dora senkt den Blick, sie fürchtet sich vor ihren Tränen. Ihre Mutter lässt ihr Zeit. Sie kennt Dora besser als jeder andere. Sie kennt das kleine, ungestüme Mädchen, das von nichts genug bekommen konnte. Auch wenn sie jetzt fast schon erwachsen ist, einige Sachen ändern sich nie. Darauf zählt sie wahrscheinlich. Sie sieht Marc an und schenkt ihm ein zuversichtliches Lächeln. Dora sieht es, das heißt, sie weiß es, ohne es tatsächlich zu sehen.
»Ich bin aber mit André verabredet. Wir wollten auch schick essen gehen.« Ihr Blick ist immer noch im Off. Sie kennt sich gut mit verschiedenen Täuschungsmethoden aus. Es ist, als hätte sie eine Zauberkiste voll mit ihnen, die sie nach Belieben plündern kann, wann immer ihr danach ist.
»Habt ihr einen besonderen Anlass?« Es ist Marc,
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