Jeden Tag, Jede Stunde
die frische Luft geführt, und da hat sie angefangen zu weinen. Und obwohl Jeannes Stimme ganz nah war, hat sie nichts verstanden, ihr Kopf war voller Eindrücke, die sich mit Salz vermischt haben, und sie hat den Kopf gehoben und den Himmel angeschaut, aber da war nichts, es war schon spät, und es war Sommer, und keine Wolken waren zu sehen, sodass sie wieder heulen musste, so traurig hat sie das gefunden, einen Himmel ohne Wolken, das dürfe es nicht geben, hat sie laut geschluchzt, und dann ist André gekommen und hat sie umarmt und abgeküsst und sie zu ihrer Party zurückgeführt. Fast getragen. Wie eine Trophäe.
»Du willst doch nicht wieder weinen, oder?«
Dora schüttelt den Kopf, aber ohne Zuversicht. Ihr Kopf ist voller Stimmen.
»Gut, denn ich habe dir etwas Wichtiges zu sagen.«
Ob sein Kopf auch voller Stimmen ist?
»Können wir uns kurz zurückziehen?«
Nein, es sieht nicht danach aus. Eine Stimme und endlose Zahlenreihen, das ist Andrés Kopf. Wahrscheinlich ist es auch gut so. Sie gluckst wie betrunken. Und schon zieht er sie in den anderen Raum, und sie winkt und lächelt den Menschen zu, die sich auf ihrem Weg befinden. Vater mit einem vollen und einem leeren Glas; Mutter mit neuerdings roten Haaren; Marc, der ihr am Anfang des Abends versprochen hat, ein Stück nur für sie zu schreiben, und sie dabei so intensiv und ernst angesehen hat, dass ihr mulmig im Bauch geworden ist und sie denken musste, es sei wahrhaftig ein Glück, dass seine Augen nicht grün sind; Antoine und seine Frau, die ihr zugrinsen; eine unbekannte alte Frau, die ihr den Rücken zeigt … Und dann ist sie schon im Zimmer nebenan, wo es nur ein schmales Bett gibt und einen Stuhl, der einmal sicher beeindruckend ausgesehen hat, und eine Menge leichter Jacken und Seidenschals: Die Sommernächte in Paris können kühl sein, man weiß es nie.
»Dora, heirate mich!«
Hat André tatsächlich geschrien oder kommt es ihr nur so vor? Er schreit selten. Wenn sie sich das so überlegt, hat sie ihn noch nie richtig schreien gehört. Nein. Noch nie.
»Werde meine Frau!«
Und bevor sie noch weiter ruhig schweigen kann, fragt sie ihn, »Warum?«, und es gibt in diesem Augenblick kein falscheres Wort auf der ganzen Welt. Andrés Kopf sinkt langsam, aber unaufhaltsam, und während Dora um Hilfe ringend beschwichtigende Sätze bei Antigone und Sophokles sucht, verlässt André den Raum. Er rennt nicht, er eilt nicht einmal, und doch kann Dora ihn nicht aufhalten, nicht erreichen, auch wenn sie den Arm ausstreckt, als wäre er wahrhaftig Jahrhunderte von ihr entfernt. Er ist weg. An ihrem Abend. Dora hat das Gefühl, ihm das nie verzeihen zu können. Aber sie ist sich dessen nicht ganz sicher. Nicht heute Abend, wo alles möglich zu sein scheint und alles offen steht, und wo alles gerade erst richtig anfängt.
Sie schaut aus dem Fenster. Noch immer keine Wolken. Das wird sie ihm, dem Himmel oder André, es ist unklar, auch nicht verzeihen können. Da ist sie sich absolut sicher.
Luka versucht, sich hinauszuschleichen, denn er will die Frau nicht wecken. Ihren Namen kennt er nicht, aber das ist ihm auch völlig egal. Genauso wie gestern und vorgestern und am Abend davor und so jetzt schon seit Jahren. Maja, Ivana, Anita, Asija, Vera, Branka … Ein dichter Wald aus Namen, die nur einen Frauenkörper darstellen und selten die Lust nach einem Wiedersehen wecken. Wie eine Gummibärchentüte. Auch wenn die Farbe nicht immer gleich ist und der Geschmack anders, macht es keinen Unterschied. Und außerdem mag er gar keine Gummibärchen!
Luka zieht vorsichtig die Hose an, das Hemd knöpft er gar nicht erst zu, er hat es eilig. Glücklicherweise ist es Sommer, man hat nicht viel Kleidung an: Man ist schnell aus-und angezogen. Eine Frau noch schneller. Es genügt, das Kleid hochzuschieben. Luka grinst. Er geht ins Badezimmer und versucht, beim Pinkeln so wenig Geräusche wie möglich zu machen. Der Spiegel über dem Waschbecken ist nicht besonders gnädig zu ihm: Sein schwarzes Haar ist wirklich zu lang, und seine Augen sind zwar immer noch grün, aber völlig gerötet und müde. Doch es hat Spaß gemacht. Hallo und Tschüss! Wobei die von heute Nacht gar nicht schlecht war, vielleicht würde es sich lohnen, ihren Namen zu erfahren, die Telefonnummer, irgendetwas. Luka grinst wieder. Auch egal. Nichts macht einen Unterschied. Er verlässt das Badezimmer und die Wohnung und läuft leichtfüßig die Treppe hinunter.
Die Nacht ist nicht mehr
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