Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jeden Tag, Jede Stunde

Jeden Tag, Jede Stunde

Titel: Jeden Tag, Jede Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natasa Dragnic
Vom Netzwerk:
Heiratsantrag fühlt sie sich ständig von ihm beobachtet, als würde er ihr nicht so richtig trauen. »Was ist denn, Dora?«, fragt er noch einmal. Dora sagt nichts und schüttelt den Kopf, der sich plötzlich schwammig und voll und leer und aufgeblasen wie ein Luftballon und verschwommen und heiß und leicht und zittrig und durchsichtig anfühlt. Sie schließt die Augen. So bleibt sie stehen. Bilder kommen in Wellen. Überrollen sie fast. »Was hast du, Dorice?«, fragt André zum dritten Mal. Ungeduldig jetzt.
     
    Luka bewegt sich nicht. Er stützt sich an die kleine Bar und hält die Luft an. Er hat Angst, die junge Frau könnte verschwinden, wenn er die Muskeln entspannt und einatmet. Er fixiert sie, bis es wehtut und seine Augen anfangen zu tränen. Dann löst sich seine Erinnerung in nichts auf, und er gleitet zu Boden. Er hat nicht einmal Zeit zu zählen. Er verschwindet langsam. Wie die Bilder einer Monografie, deren Seiten er ganz langsam loslässt.
     
    Dora ist die Erste, die bei dem ohnmächtig gewordenen Mann anlangt. Sie hat das schon einmal gesehen. Erlebt hat sie es. Und sie weiß, was sie tun muss. Also geht sie in die Hocke, wird winziger als winzig. Ihre Augen weiten sich, bis ihr Gesicht, das blasser wird als blass, nur noch aus Augen zu bestehen scheint. Sie beugt ihren Kopf über den des jungen Mannes, und bevor sich Christian, der sie zu dieser Ausstellung »eines begabten kroatischen Künstlers« eingeladen hat, auf der anderen Seite niederknien und seine Beine hochheben kann, küsst Dora den hellroten Mund des Bewusstlosen. »Dora!«, ruft André entsetzt. Keine Zeit für Kosenamen!
     
    Luka hört eine leise Stimme an seinem Gesicht. »Du bist mein Dornröschen, nur mein, wach auf, du bist mein Prinz, nur mein …« Dann kommen ihm auch andere Stimmen und Worte zu Ohren, und verwirrt und schwach macht er die Augen auf und sieht ihre Augen, sie lächelt, seine Lippen bewegen sich lautlos, er kann nichts sagen, also lächelt er schwach zurück und hebt unsicher seinen Arm und seine Hand streckt sich zu ihrem Gesicht und er berührt ihr langes schwarzes Haar und sie flüstert noch einmal ganz leise, so leise, dass nur ihr Mund sich bewegt und nur er es hören kann: »Du bist mein Prinz.«

10
    »Ich kann es gar nicht glauben!«
    »Ich muss dich ständig ansehen.«
    »Ich dich auch.«
    »Du bist wunderschön.«
    »Deine Augen. Sie haben mich immer verfolgt.«
    »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
    »Deine Bilder sind umwerfend!«
    »Ja, die sind gut.«
    »Ich fand deine Bilder damals schon fantastisch.«
    »Da waren wir doch noch Kinder.«
    »Und jetzt eine eigene Ausstellung in Paris!«
    »Es ist sechzehn Jahre her!«
    Das Leben existiert nur in diesem Augenblick. Zeitlos. Dora weiß das. Die Erinnerung ist ein Cocktail aus Erlebtem und Gehörtem, und am Zuckerrand des Glases steckt eine Zitronenscheibe. Man kann die Zutaten nur schwer voneinander trennen. Aber dieser Mann. Das ist Luka. Schon damals war er ein Maler. Er hat ein Bild von ihr gemalt. Er hat ständig gemalt. Dora kann sich an alles erinnern. Alles, was sie verloren geglaubt hat! Das ist Luka! Ein Junge mit einer Schachtel voller Buntstifte. Und siehe da, jetzt eine eigene Ausstellung in Paris! Sie sitzt ihm gegenüber, aber eigentlich befindet sie sich in ihm. Tief drinnen. In der Vergangenheit. Das ist Luka!
    »Wie geht es dir?«
    »Ich bin Schauspielerin geworden.«
    »Wirklich?«
    »Ich spiele die Cordelia.«
    »Ist das gut?«
    »Das ist ein Volltreffer.«
    »Was machen wir jetzt?«
    »Keine Ahnung.«
    »Dann lass uns einfach hier sitzen bleiben.«
    »Okay.«
    »Hast du Zeit?«
    »Alle Zeit der Welt.«
    »Und der Mann da?«
    »Welcher Mann?«
    »Der dich ständig beobachtet?«
    »Kenne ich nicht.«
    »Bist du dir ganz sicher?«
    »Kenne keinen Mann da.«
    »Aber …«
    »Truffaut ist gestorben.«
    »Wer?«
    »Truffaut.«
    »Kenne ich nicht.«
    »Vor einigen Wochen.«
    »Ein Freund von dir?«
    Luka will die Hand ausstrecken, um Dora zu berühren, ihre weiße Haut, die unter dem rötlichen Thekenlicht exotisch schimmert, aber er hat Angst. Also zittert seine Hand pausenlos. Riesengroß ist diese Angst nämlich. Wovor, das weiß er nicht. Nicht mehr davor, dass sie versinkt, das ist sicher. Sie soll einfach da sitzen bleiben und ihn ansehen und ihren Mund bewegen und nie aufhören zu lächeln und zu sprechen und ihm Fragen zu stellen. Während er seine Hand auf ihren Bauch legt. Vielleicht befürchtet er, dass der Mann von

Weitere Kostenlose Bücher