Jeden Tag, Jede Stunde
Termine und eine fantastische Rolle einzustudieren, und sie wird sich nicht ablenken lassen, das darf sie nicht, jetzt wo sie am Anfang und doch schon mittendrin steht und schon Erfolg hat und ihr Kopf ganz gut mit all den Stimmen umgehen kann und sie keine Angst mehr hat, so wie ihre Mutter immer schon gesagt hat. Sie ist erst zweiundzwanzig Jahre alt, sie kann tun und lassen, was sie will, und heiraten, wann und wen sie will. Oder auch nicht. Alles steht offen, und sie will sich frei bewegen können und will nicht verfolgt werden. André ist lieb und nett, und sie liebt ihn auch, sicher, irgendwie, aber auch nicht richtig, und was spielt das für eine Rolle, dass sie schon vier Jahre zusammen sind, immer ist alles möglich, das Leben ist doch voller Überraschungen …
»Klara?!«
Klara nickt und lächelt ein wenig, als würde sie sich freuen, dass Luka sie erkannt hat. Denn ihre Haare sind heller und ihr Körper viel dünner geworden, und sie sieht älter aus als achtundzwanzig, als hätte sie eine schwere Zeit hinter sich. Als wäre sie krank gewesen. Eine längere Zeit lang.
Aber Luka würde sie natürlich überall erkennen: Sie war doch von ihm schwanger, und er wollte das Kind nicht. Und sie hat gemacht, was er wollte, ohne dass er ihr etwas zu sagen brauchte. Und dann war er weg. Verschwunden. Hat sich nicht mehr gemeldet, hat sie verlassen, ohne ihr ein Wort zu sagen. Hat sich selbst und alles verlassen, hat sich geschämt und sich verachtet, aber das hat nichts an gar nichts geändert. Er ist fortgegangen. Und dann war sie auch weg, ist nach Makarska zurückgekehrt, an den Ort, wo sie zu Hause ist und er auch – komisch, dass sie sich erst in Zagreb kennengelernt haben, das hat ihn immer beschäftigt, als wären sie durch die gleichen Wurzeln eher getrennt als verbunden -, und jetzt steht er hier, und sie steht vor ihm, als wäre nichts gewesen, und was macht sie überhaupt hier am Bahnhof, und wieso hat sie gewusst, dass er kommen würde und wann??
»Was sagst du, Dorice?«
André spricht ›Dorice‹ so aus, wie ihre Mutter es früher, als sie noch ein Kind war, immer getan hat und jetzt noch manchmal tut, vor allem wenn sie etwas von ihr will. Dora hat aber keine Ahnung, wovon André gesprochen hat und was er jetzt von ihr erwartet. Also lächelt sie verlegen und hat vor, nachzufragen, als André sie stürmisch umarmt und »Je t’aime, je t’aime« in ihr Haar flüstert. Als wäre etwas entschieden. Während sie abwesend war.
»Ana hat mir verraten, dass du heute kommst.« Und dann noch ein Lächeln.
Und Luka ist auf einmal so unbeschreiblich müde, dass er auch nur lächeln kann, zwar ganz kurz und schwach, aber immerhin. Er sehnt sich nach seinem Bett, einem guten, ausgiebigen Schlaf. Er will allein sein. Er holt seine Tasche aus dem Gepäckraum des stinkenden Busses und macht sich auf den Weg. Klara geht an seiner Seite, und ihr rechter Arm, der nackt ist – es ist Sommer -, streift ab und zu den seinen, der weniger nackt ist, aber immerhin. Und so gehen sie nebeneinander, als würden sie zueinander gehören, auch wenn sie sich jahrelang nicht gesehen haben. Und diese getrennten Jahre sind zahlreicher als die zusammen verbrachten davor.
Lukas Tasche ist alt und dunkelblau und hat schon viele Busreisen erlebt, aber Luka schämt sich ihrer nicht und hat sie nicht in einer Plastiktüte versteckt. Nie wieder will er etwas verstecken müssen.
Klaras Hand berührt seinen Arm, und da ist sie auf einmal. Einfach so, ohne seinen Willen. Die Vergangenheit. Die er abgeschlossen geglaubt hat.
9
Luka sieht die junge Frau, die gerade hereinkommt. Ihre schwarzen Haare, lang und wellig. Und glänzend. Wie die dunkelblauen Glitzerschuppen der Makrele, die immer in Bewegung bleiben muss, um nicht zu versinken – das hat etwas mit der fehlenden Schwimmblase zu tun, Luka weiß es nicht genau. So ist auch diese große, schlanke Frau voller Bewegung, sogar wenn sie sich nicht bewegt, und er kann seine Augen nicht von ihr abwenden. Er hat Angst, sie könnte versinken.
Dora betritt erwartungsvoll – sie hat keine Einladung und weiß nicht, was sie gleich zu sehen bekommt – die Galerie ihres guten Freundes Christian und sieht sich um. Ein großer, junger Mann steht an der improvisierten Bar und beobachtet sie. Dora stört das nicht. Sie zieht ihre Jacke aus. Sie will nicht, dass André ihr hilft, solange der große, junge Mann sie beobachtet. »Was ist denn, Dora?«, wundert André sich. Seit dem
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