Jeden Tag, Jede Stunde
so schwarz. Plötzlich erfüllt ihn eine ungeduldige Sehnsucht, eine Unruhe. Heute fährt er nach Makarska. Nach Hause.
Das Telefon klingelt. Dora ist ein tapferes Mädchen, hat ihre Mutter schon immer gesagt. Mutig und entschlossen, schlicht und ergreifend. Also hebt sie gleich ab.
»Oui?«
»Ich bin es.«
Klar, wer sonst!
»André.«
Ja und?
Langes Schweigen.
»Dora, bist du noch da?«
»Ja.«
»Ich will dich sprechen.«
Ist doch dein Problem.
»Kann ich zu dir kommen?«
Das hättest du wohl gern!
»Etwas stimmt nicht mit der Leitung. Dora, bist du noch da?«
»Ja.«
»Also, kann ich jetzt gleich kommen?«
»D’accord.«
»Ich bin gleich da. Und, Dora …«
»Was?«
»Nichts. Ich bin gleich da.«
Dora legt den Hörer auf. Es ist 9:52 Uhr. Es ist noch sehr früh. Vom Fenster ihrer kleinen Wohnung in der Rue de Médicis ruht Doras Blick auf dem Jardin du Luxembourg, und sie atmet tief ein und aus. Sie liebt diese Wohnung und den Park mit seinem Marionettentheater, dessen Gast sie so oft ist, dass sie alle Stücke und alle Rollen schon auswendig kennt, sie liebt diese ganze Gegend, wo sich alles, was ihr wichtig ist, in ihrer Nähe befindet. Schon immer wollte sie hier wohnen, und ihr Vater hat ihr das ermöglicht, er gibt ihr die Hälfte des Mietgeldes, aber Dora ist sich sicher, dass das nicht mehr nötig sein wird, jetzt wo sie wirklich zu arbeiten beginnt und Geld verdient. Sie lächelt. Die frühe Morgenzeit tut ihr gut. Sie fühlt sich wohl. Und Andrés Besuch kann nichts daran ändern.
Der Bus fährt um die Kurve, und Luka sieht die Stadt vor sich. Noch etwa fünfzehn Minuten, dann ist er angekommen. Es sind Monate her, dass er hier war. Das Meer. Er vermisst das Meer. Schmerzhaft. Es lässt sich leichter atmen, wenn das Meer in der Nähe ist. Wie lange kann er das noch aushalten, diese Abwesenheit? Und mit der Ausstellung in Paris im Oktober wird es noch schwieriger. Aber er wird Zagreb verlassen. Das ist schon so etwas wie eine Entscheidung. Nicht dass er in diesem Bereich stark wäre, nein. Aber das hier, das ist eine Entscheidung. Weil es eigentlich gar keine Entscheidung ist, es ist eine Notwendigkeit. Eine Alternativlosigkeit. Es fühlt sich an wie eine Situation, in der er keine Wahl hat. Und das mag er. Makarska ist sein Zuhause. Immer schon gewesen. Wo alles zusammenläuft. Sinnvoll ist. Bedeutung hat. Und das Meer. Und es kommt nicht infrage, dass er nach der Ausstellung länger in Paris bleibt, nicht einmal eine Weile. Christian wird sicher versuchen, ihn zu überreden, ja, aber keine Chance. Paris ist genial, einmalig für einen jungen Künstler, das steht außer Frage. So eine Gelegenheit bietet sich einem selten. Er ist auch aufgeregt, hat schon fast alles vorbereitet, und wer weiß, vielleicht kommen jetzt noch ein paar neue Bilder dazu. Er hat wirklich große Lust zu malen. Womöglich weil alles so klar geworden ist. Und so plötzlich, anscheinend. Oder ist es nur die Müdigkeit, der Schlafmangel? Nein. Kann nicht sein.
Luka lehnt sich in seinem Sitz zurück und schließt die Augen. Einzuschlafen lohnt sich nicht, er ist gleich da. Er kann ein kleines Atelier mieten. Es muss Dutzende von leeren Dachböden geben, die genau auf ihn warten. Und Frauen gibt es überall. Wer kann schon einem berühmt werdenden jungen Maler widerstehen! Alles fügt sich zusammen. Nach der Pariser Ausstellung zieht er zurück ans Meer.
Sie fahren in die Stadt ein, und Luka könnte den Busbahnhof sehen, wenn er die Augen offen hätte. Und Klara.
»Es tut mir leid, ich verstehe, es war der absolut falsche Zeitpunkt, ich weiß, ich weiß nicht, wieso ich das getan habe, du musst mir glauben, du musst mir einfach glauben …«
Dora ist überrascht, will es aber nicht zeigen, denn sie weiß ja selbst noch nicht, was sie tun möchte und wie sie zu André steht. Seit gestern ist nicht viel passiert, aber sie hat viel nachgedacht. Nein, sie hat überhaupt nicht nachgedacht. Sie hat es einfach gewusst. Dass es auch andere Sachen und Menschen gibt. Männer. Und dass es Dinge gibt, die man nicht zurück denken kann, und Blicke und Gesichtsausdrücke, die haften bleiben und einen verfolgen und nie in Ruhe lassen, und dann ist alles vorbei, und man fragt sich, was passiert ist, obwohl man alles genau gespürt hat. So könnte es kommen, wenn sie es zulassen würde. Und sehr bald muss sie ja sowieso zur Probe fahren. Sie ist jetzt eine professionelle Schauspielerin und hat Verpflichtungen und
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