Jeden Tag, Jede Stunde
geht Dora nicht dran. Sie geht überhaupt nicht ans Telefon, denn Luka ist da, und sie hat Wichtigeres zu tun. Sie ist eben dabei, in einem Schnellkurs erwachsen zu werden, lächelt Dora. Dora ist glücklich. Sie wird keine Telefonate führen. Nicht jetzt. Am liebsten nie. Aber sie weiß, dass das nicht möglich ist. Also irgendwann, nur nicht jetzt gleich. Also klingelt das Telefon den ganzen langen Tag danach.
»Ist das der Mann aus der Galerie?« fragt Luka.
»Vielleicht.« Ihre Stimme sagt: Ich will nicht darüber sprechen.
So geht der Tag danach vorbei.
Am Tag nach dem Tag danach ist dann schon irgendwann. Dora setzt sich pünktlich um 8:15 Uhr auf die Couch neben dem Telefon und wählt die Nummer, die sie seit Jahren auswendig kennt. Es ist die perfekte Zeit zwischen dem Fertigmachen-fürs-Büro und dem Verlassen der Wohnung. Alles ist sehr gut durchdacht. Es klingelt. Dora ist ein wenig aufgeregt, so etwas hat sie noch nie gemacht. Es klingelt. Keine Zeit für große Reden. Nur eine Verabredung. Es klingelt. Keine Erklärungen. Es klingelt. Keine Fragen und Antworten. Es klingelt. Nur eine Verabredung. Es …
»Oui?«
»Ich bin es.«
Schweigen.
»Dora.«
»Ich weiß.«
»Können wir uns treffen?«
»Warum?«
»Ich will dir etwas sagen.«
»Geht es nicht am Telefon?«
»Lieber nicht.«
»Wie du meinst.«
»Ginge es heute?«
»Du hast es aber sehr eilig.«
Schweigen.
»Na gut.«
»Ich könnte zu dir kommen.«
»Zu mir?!«
»Oder wir treffen uns am Bahnhof.«
»Am Bahnhof?!«
»Also entscheide du.«
»Wir können uns im Chez Alfredo treffen.«
»Ich will nicht essen.«
»Dann im Club Jazz.«
Schweigen. Als würde sie überlegen.
»Nein. Wir treffen uns im Café Blanche.«
»Da waren wir noch nie.«
»Genau.«
Schweigen.
»Ich verstehe.«
»Um fünf Uhr?«
»Das ist zu früh. Ich habe eine Besprechung um vier.«
»Gut, dann um sechs?«
»D’accord.«
»Bis dann.«
»Bis dann.«
An der Türschwelle umarmen sich Dora und Luka demonstrativ. Auch wenn keiner zusieht. Er küsst sie auf die Wangen, ganz brav. Ihre Augen sind groß, und ihre Stirn denkt nach. Dann küssen sie sich auf den Mund, und sie geht. Ihr sich entfernender Rücken sagt ihm klar und deutlich: Ich weiß, was ich tue. Alles wird gut.
André sitzt schon an einem Ecktisch. Er sieht nicht gut aus. Dora schmerzt es, ihn so zu sehen. Er steht auf. Zuerst lächelt er sie an, so wie immer, schon ihr Anblick scheint ihn glücklich zu machen, dann plötzlich wird sein Gesicht blass und maskenhaft. Er weiß, warum sie hier sind. Natürlich weiß er das. In einem Café, in dem sie sich zum ersten und wahrscheinlich zum letzten Mal treffen. Bevor Dora sich hinsetzt, berührt sie sanft sein Gesicht. Nein, sie will es berühren. Aber er lehnt sich ein wenig nach hinten, und ihre Hand bleibt in der Luft stehen, ohne Unterstützung. Verlassen. Damit muss sie klarkommen. Kein Weg führt daran vorbei.
»André, ich verlasse dich.«
»Was?« Es ist nicht die Überraschung über das Gesagte, es ist wegen der Unmittelbarkeit, mit der sie es sagt, dass er fast aufspringt.
»Ich verlasse dich.«
»Wieso?«
»Es ist nur fair.«
»Wem gegenüber?«
»Dir. Und mir.«
»Aber ich liebe dich.«
»Ja, ich weiß.« Dora hat Schwierigkeiten, ihm in die Augen zu sehen.
»Also, warum?«
»Ich habe dich auch gern.«
»Du hast mich gern?! Du hast mich gern?!« Er wird entschieden zu laut.
»Ja, das weißt du.« Umso leiser wird Doras Stimme.
»Wie wäre es mit Liebe? Liebst du mich?«
»Ich weiß es nicht.«
»Nach vier Jahren weißt du es nicht.«
»Deswegen sollten wir uns auch trennen.«
André schweigt eine Weile. Er überlegt und sieht sie dabei argwöhnisch an. Als könnte er dieser Logik nicht ganz folgen. Plötzlich leuchtet sein Gesicht auf.
»Du hattest einen One-Night-Stand, es hat dir gefallen, und jetzt denkst du, du musst mich verlassen. Aber das stimmt nicht. Es ist mir egal. Ich werde es verkraften. Ich habe dir einen Heiratsantrag gemacht, falls du dich daran erinnern kannst. Für immer und ewig. Es ist mir egal. Ich liebe dich.«
»Für immer und ewig.« Dora wiederholt seine Worte wie in Trance. Dann sagt sie unerwartet laut: »Und ich liebe einen anderen.«
»Nach einer Nacht?!«
Dora schweigt. Sie will nichts erklären müssen.
»Mon dieu, ihr Frauen seid so blöd!! Nach einer Nacht?! So gut war er? Was hat er denn gemacht? Gezaubert?«
Dora schweigt. Es hat keinen Sinn, etwas zu
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