Jeden Tag, Jede Stunde
wäre, je gewesen ist, nein. Aber das hier, das ist eine Entscheidung. Weil es eigentlich gar keine Entscheidung ist, es ist eine Notwendigkeit. Eine Alternativlosigkeit. Es fühlt sich an wie eine Situation, in der er keine Wahl hat. Und das mag er. Denn genau so will er es haben. Er hat sein Leben wiedergefunden. Unerwartet. Dora ist sein Zuhause. Immer schon gewesen. Wo alles zusammenläuft. Sinnvoll ist. Bedeutung hat. Und das Meer. Es ist klar. Alles ist so klar geworden. Oder ist es nur die Müdigkeit? Zwei Tage unterwegs, kaum geschlafen. Nein. Kann nicht sein. Denn es ist schon vor einigen Monaten alles klar gewesen, mit einem Blick. Mit dem ersten Wort. Noch vor dem ersten Wort. Plötzlich und überraschend und doch urtümlich, mit dem ersten Kuss besiegelt.
Luka lehnt sich in seinem Sitz zurück und schließt die Augen. Einschlafen lohnt sich nicht, er ist gleich da. Dora, wo bist du …? Ich spüre nach unten hin, /so zwischen Krawatte und Herz, mehr nach oben, / eine gewisse zwischen-rippige Melancholie: mit einmal sah ich dich nicht mehr. Dora.
Es ist entschieden. Früher als bald, hat er ihr versprochen. Früher als bald. Alles passt und fügt sich zusammen. Er ist sehr müde.
Der Bus fährt in die Stadt ein, und Luka könnte den Busbahnhof sehen, wenn er die Augen offen hätte. Und Klara.
»Klara?!«
Klara nickt und lächelt ein wenig, als würde sie sich freuen, dass Luka sie erkannt hat. Denn ihre Haare sind länger und ihr Körper ist fülliger geworden, und sie sieht älter aus als fast neunundzwanzig, so als hätte sie eine schwere Zeit hinter sich. Als wäre sie krank gewesen. Eine längere Zeit. Krank oder unglücklich oder verlassen und vergessen.
Aber Luka würde sie natürlich überall erkennen. Er hat sie zwar einige Monate nicht gesehen und nicht mit ihr gesprochen und sich auf keinem anderen Weg bei ihr gemeldet. Er hat sie auch nicht vermisst, nicht an sie gedacht, in keinem noch so kurzen Augenblick ist sie ein Teil seines Lebens gewesen in den letzten Monaten. Aber jetzt steht er hier und sie steht vor ihm, als hätte es diese Monate des Schweigens nicht gegeben, und was macht sie überhaupt hier am Bahnhof, und wieso hat sie gewusst, dass er kommen würde und wann …
»Ana hat mir verraten, dass du irgendwann heute kommst.« Und dann noch ein Lächeln. »Das ist der zweite Bus. Einen wollte ich noch abwarten.«
Und Luka ist auf einmal so unbeschreiblich müde, dass er auch nur lächeln kann, zwar ganz kurz und schwach und unverbindlich, wie man einen Fremden anlächelt, wenn man nicht weiß, was man sagen soll, aber immerhin. Er sehnt sich nach einem Bett, nach einem guten, ausgiebigen Schlaf. Er will allein sein. Er will Dora anrufen. Er muss sofort ihre Stimme hören. Er holt seine zwei Koffer aus dem Gepäckraum des stinkenden Busses und macht sich auf den Weg. Klara ist an seiner Seite, und ihr rechter Arm, der in einer dicken Jacke eingehüllt ist – es ist ja Februar -, streift ab und zu den seinen, der genauso dick angezogen ist. Und so gehen sie nebeneinander her, als würden sie zueinander gehören, auch wenn sie sich monatelang nicht gesehen haben. Die Zeit, in der sie getrennt waren, ist länger als die, die sie davor zusammen verbracht haben. Nicht so richtig zusammen, nein, aber doch irgendwie. Er hat es nicht so eng gesehen, sie haben einige Male miteinander geschlafen, es gab aber auch andere Frauen, sie sind einige Male ins Kino gegangen oder mit dem Boot hinausgefahren. Aber nichts Ernsthaftes, nur Spaß. Es wurden keine Versprechungen oder Ähnliches geäußert. Und sie hat nichts dagegen eingewendet. Nicht ein Mal hat sie ihn gefragt, ob er sie liebe. Er hat sich auch nie gefragt, was sie eigentlich von ihm will, nach all dem, was sie miteinander durchgemacht haben und wie schlecht er sie am Ende behandelt hat. Es hat ihn nicht interessiert. Sie war eine von vielen. In dieser unwiderstehlich chaotischen Wartezeit, die ewig hätte so weitergehen können. Aber Gott sei Dank ist Dora nicht Godot. Sie ist zurückgekommen. Dora. Er muss sofort ihre Stimme hören.
Klaras Hand berührt seinen Arm, als wollte sie ihn anhalten, und auf einmal bleibt er tatsächlich stehen, dreht sich zu ihr, und da ist es. Einfach so, ohne seinen Willen. Ohne Vorwarnung. Erwischt ihn im Zustand tiefster Ahnungslosigkeit. Er kann nichts tun, er kann die Worte, die Klara ausspricht, nicht erahnen und nicht aufhalten, geschweige denn die Realität dahinter. Er ist absolut
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