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Jeden Tag, Jede Stunde

Jeden Tag, Jede Stunde

Titel: Jeden Tag, Jede Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natasa Dragnic
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Luft.
    »Das war keine gute Idee.«
    »Ja. Neruda ist nicht unbedingt eine Stimmungskanone.«
    »Nein. Er macht, dass ich dich vermisse. Obwohl du noch hier vor mir stehst.«
    »Er will, dass ich hierbleibe.«
    »Dann bleib.«
    »Dora.«
    »Ich weiß.«
    »Wir sehen uns früher als bald.«
    »Ja, ich weiß.«
    »Nicht weinen.«
    »Ich weine nur dann nicht, wenn du das Zählen sein lässt.«
    »Wie meinst du das?«
    »Ich sehe deine Lippen, die sich bewegen, und ich sehe deine Augen, die sich schon hinter den Lidern verstecken.«
    »Nein, ich sehe dich doch an. Ich kann es mir nicht leisten, dich nicht anzusehen.«
    »Bleib.«
    »Dora.«
    »Ich glaube, ich kann das hier nicht.«
    »Du hast dich von mir auch nicht verabschiedet.«
    »Wann?«
    »Als ich auf unserem Felsen gesessen und auf dich gewartet habe. Du bist nie gekommen.«
    »Daran kann ich mich nicht mehr so gut erinnern.«
    »Ich habe dich gehasst.«
    »Das glaube ich dir nicht.«
    »Ich wollte tot sein.«
    »Ich bin mir sicher, dass ich kommen wollte. Du warst mein Ein und Alles, und man hat dich mir weggenommen und ich konnte nichts tun, ich war noch so klein und ich konnte nur weinen und mein Leben hassen, ich habe auf meinem Bett gelegen und das Bild, das du von mir gemalt hast, in der Hand gehalten, und ich habe an dich gedacht und …« Dora kann nicht mehr. Luka muss sie ganz fest halten, damit sie nicht auf den schmutzigen, grauen Bahnsteigboden hinuntergleitet. »Ich erinnere mich an alles! An alles! Ich weiß es wieder! Es ist alles wieder da, sichtbar!« Schwach ist ihre triumphierende Stimme.
    Luka kämpft mit der ganzen Welt. Und mit Doras Aufregung. Sie lässt sich fast nicht mehr halten. Gut, dass sie sich plötzlich aufrichtet. Und ihn entgeistert ansieht. Aber wen sieht sie da? Luka bekommt allmählich Angst.
    »Du wirst nie mehr zurückkommen, du wirst mich jetzt verlassen, und wir werden uns nie mehr sehen …«
    »Dora, es gibt nur dich und mich, und jetzt sind wir erwachsen, und nichts und niemand kann uns trennen und daran hindern, das Leben miteinander zu verbringen. So ist es und so wird es immer sein.« Luka weiß, dass er nicht mehr viel Zeit hat, er hat keine Luft, ihm mangelt es an allen lebenserhaltenden Stoffen, er spürt, wie seine Augenlider sich schließen, und schon zählt er: Eins, zwei, drei, vier, fünf…, und dann holt Doras Kuss ihn wieder aus der Dunkelheit heraus. Alles passiert so schnell. Ohne richtige Übergänge, die einem das Verstehen erleichtern.
    Zu allem Überfluss ist der Zug dann auch schon da. Pünktlich. Wie oft kommt das schon vor?! Und ausgerechnet in Frankreich?! Wo sind die schönen Zeiten, wo man auf den Zug eine halbe, eine ganze Stunde warten musste?! Der Zug ist da. Zwei Minuten Aufenthalt. Also gar keiner, nicht der Rede wert. Luka steht auf der Treppe.
    »El amor supo entonces que se llamaba amor. / Y cuando levanté mis ojos a tu nombre / tu corazón de pronto dispuso mi camino. Sonett dreiundsiebzig. Sieh unbedingt nach. Das ist die Antwort auf alles. Denk daran! Denk unbedingt daran!«
    Der Zug fährt ab.
     
    Der Zug hat den Bahnhof verlassen und ist nicht mehr zu sehen. Nicht einmal als eine ungefährliche, kleine, entfliehende Schlange. Verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben.
    Dora steht weiterhin unbeweglich da.
    Luka.
    Sie hat Angst.

15
    Es ist eine lange Reise. Mit vielen Zwischenstationen. Das würde Dora gefallen, denkt Luka. Er entfernt sich nur sehr langsam von ihr. Ob im Zug, an einem Bahnhof oder im Bus, er hält Neruda fest in der Hand. Eine Leben sichernde Nabelschnur. Ein Lebenselixier. Ein Rettungsring. Alles zugleich. Gedichte als Garantie, dass alles Gesagte, Gefühlte und Gelebte wahr ist und nicht nur geträumt wurde. Nicht verschwinden kann.
    Der Bus fährt um die Kurve, und Luka sieht die Stadt vor sich. Noch etwa fünfzehn Minuten, dann ist er in Makarska angekommen. Es sind Monate her, dass er hier war. Das Meer. Er vermisst das Meer. Schmerzhaft. Es lässt sich leichter atmen, wenn das Meer in der Nähe ist. Er vermisst Dora. Er kann nur atmen, wenn Dora bei ihm ist. Er schließt die Augen und fängt an zu zählen: Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs … Er spürt schon die angenehme Leichtigkeit der Bewusstlosigkeit … Nein, er darf nicht, er hat es Dora versprochen. Nur das zählt. Und sie zählt auf ihn. Alles muss jetzt schnell geschehen. Kaum habe ich dich verlassen … Das ist schon so etwas wie eine Entscheidung. Nicht dass er in diesem Bereich stark

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