Jeden Tag, Jede Stunde
machtlos, niemand kann ihm helfen und ihn beschützen. Nicht einmal Neruda. Der ihn wie kein anderer kennt, ihn und seine Liebe zu Dora. Nicht einmal Dora kann ihm helfen. Seine Dora. Es kann nicht rückgängig gemacht werden.
»Ich bin schwanger.«
Und es wird Nacht, und es sieht so aus, als würde der Tag nie mehr wiederkommen. Dora.
Und es ist tatsächlich entschieden. Jetzt, und erst jetzt. Die Endgültigkeit des Augenblicks.
16
Dora eilt nach Hause. Jeden Abend, nach jeder Probe, eilt sie nach Hause und setzt sich neben das Telefon. Und wartet. So vergehen die Tage, zahlreiche, lange Tage ohne Ende. Nur ein Mal hat Luka sie angerufen, vom Bahnhof in Venedig aus, wo er umsteigen musste. Seitdem ist entweder ihr Telefon kaputt – was sicher nicht der Fall ist, sie hat es überprüft – oder er hat ihre Telefonnummer vergessen – was sie sich nicht vorstellen kann – oder aber er ist tot – was verboten ist. Also was?!
Dora geht es nicht gut. Sie kann sich nicht auf ihre Arbeit konzentrieren, wie ein Gespenst läuft sie herum und fragt jeden, was passiert sei. Helena, Jeanne und sogar ihr Vater versuchen, sie zu beruhigen: Er habe sicher viel zu erledigen, er sei sehr beschäftigt, um schneller wieder bei ihr zu sein, vielleicht habe er angerufen, als sie nicht zu Hause war … Denn alle glauben, dass Luka Dora liebt und dass sie zusammen sein werden. Sie versuchen, sie abzulenken, sie sind sehr erfinderisch und einfallsreich. Alles umsonst. Nur ein Anruf von Luka kann die Situation retten. »Warum rufst nicht du ihn an?«, wundern sie sich. Aber Dora hat keine Nummer, Luka hat ihr keine gegeben, und sie hat nicht gefragt, hat es einfach vergessen. So etwas kann schon vorkommen. Das ist merkwürdig, denken sie, sagen aber nichts.
Nach einer Woche ist Dora krank vor Sorge, Ungewissheit, Unglück. Sie will nicht aufstehen, im Theater sagt sie, sie habe eine schwere Grippe. Frédéric, der Regisseur mit den schrillen Einstecktüchern, wünscht ihr eine schnelle Besserung, sie zählen auf sie, sie solle sich beeilen, viel Zeit hätten sie nicht mehr und es gebe noch einiges zu tun, aber sie müsse sich keine Sorgen machen, solle jetzt an sich denken und rasch gesund werden und ihren Text immer wieder aufsagen, die Premiere stehe vor der Tür. Ja, ja, meint Dora ungeduldig und legt auf. Dann wählt sie eine kurze Nummer und verlangt die internationale Auskunft, sie wird verbunden. Es klingelt lange, sehr lange, wahrscheinlich wollen alle genau jetzt die Telefonnummer vom Hotel Park in Makarska, Jugoslawien, wissen. Und dann hat sie sie doch, nach einer kurzen Suche steht sie auf einem großen, leeren Blatt geschrieben. Die Telefonnummer. Dora starrt sie an. Was jetzt. Wählen, das ist immer ein guter Anfang. Und schon ertönt auf der anderen Seite wieder das Freizeichen. Heute ist ein guter Tag fürs Telefonieren.
»Hotel Park, guten Tag.« Eine hohe Frauenstimme. Sie wartet, denn Dora kann nichts sagen.
»Hallo? Hotel Park, was kann ich für Sie tun?«
Und Dora legt auf und fängt an zu weinen. Sie kann nichts für sie tun, sie, diese wahrscheinlich nette Frau mit dieser hellen Stimme, sie kann ihr keine Erklärung geben, sie kann Luka nicht zu ihr schicken. Das Schlimmste ist, dass sie womöglich etwas weiß, was Dora nicht weiß. Es ist erniedrigend. In diesem Augenblick hasst sie Luka. Sie versteht nichts.
Aber sie kann nicht anders, sie versucht es noch einmal. Sie hat keine Wahl. Alles andere fühlt sich an wie der Tod.
»Hotel Park, guten Tag.« Eine hohe Frauenstimme.
»Guten Tag, kann ich bitte Herrn Ribarević sprechen?« Dora erkennt die eigene Stimme nicht. Als wollte sie sich verstellen.
»Und wer will ihn sprechen?«
Dora schweigt. Was kann sie sagen?!
»Hallo? Sind Sie noch da?«
»Ja. Mein Name ist Negrini.«
»Herr Ribarević ist momentan nicht im Hotel, er kommt erst heute Nachmittag wieder.«
»Wann kann ich ihn am besten erreichen?«
»Versuchen Sie es so gegen fünfzehn Uhr.« Die Stimme ist immer noch nett. Und hoch.
»Danke.«
»Gern geschehen. Auf Wiederhören.«
»Auf Wiederhören.«
Dora legt auf und ist erschöpft, als hätte sie tagelang Netze voller Fische aus dem Meer geholt. Oder als hätte sie Shakespeares sämtliche weibliche Rollen an einem Tag lernen müssen. Sie schließt die Augen und wartet. Alles wäre ihr jetzt lieber als das Warten.
Gegen zwei Uhr kommt Helena und bringt ihr Mittagessen. Dora schickt sie ungeduldig weg. Sie will alleine sein, wenn
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